Das Problem ist nicht erst seit Corona bekannt: Pflegekräfte werden händeringend gesucht. Nun aber könnte sich in der Schweiz etwas bewegen. Am 28. November stimmen die Eidgenossen über eine Initiative ab, die die Arbeit in der Pflege verbessern und attraktiver machen soll. Das könnte sich auch auf die Pflegekräfte in den deutschen Grenzregionen auswirken.
Schon jetzt ist der Mangel an Pflegekräften in der Schweiz akut. Etwa 11.000 Stellen in der Pflege sind nach Angaben des Pflegeverbands SBK-ASI unbesetzt. Hinzu kommt: 46 Prozent der Pfleger in der Schweiz geben ihren Beruf frühzeitig auf. Die durchschnittliche „Verweildauer“, wie es in einem Bericht des Nationalrats zur Situation in den Pflegeberufen heißt, belaufe sich 2016 auf 17,5 Jahre.
Früher Ausstieg
„Als Gründe für den vorzeitigen Berufsausstieg nennen Pflegende insbesondere die unregelmäßigen Arbeitszeiten mit Nacht- und Wochenenddiensten, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Privatleben erschweren sowie die hohe körperliche und psychische Belastung der Pflegearbeit“, heißt es in dem Papier.
„Wir haben einen Pflegenotstand“, sagt Komitee-Mitglied der Initiative und Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK-ASI), Yvonne Ribi. „Wir haben zu wenig Pflegende, die auf dem Arbeitsmarkt sind, um die vorhandenen Stellen zu besetzen und die Arbeitsbedingungen sind oft so, dass sie deutlich früher aussteigen“, skizziert sie das Problem.
Das Problem des Pflegekräftemangels wird durch die Berufsausstiege noch verschärft. Und dass, obwohl bereits ein Drittel der Pflegestellen von Fachkräften aus dem Ausland erfüllt wird: 2017 betrug der Anteil des ausländischen Pflegepersonals in den Schweizer Krankenhäusern dem Parlamentsbericht zufolge 33,8 Prozent. In der italienischen Schweiz sind es stellenweise bis zu 60 Prozent, in der französischsprachigen Schweiz liegt der Anteil teils sogar bei bis zu 80 Prozent.

Genaue Zahlen, wie viele Pfleger aus Deutschland in der Schweiz arbeiten, liegen dem Verband nicht vor. Auch beim Bundesgesundheits- und beim Arbeitsministerium gibt es keine Zahlen dazu. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Bern hat ebenfalls keine aktuellen Zahlen, sagt dem SÜDKURIER aber auf Anfrage, dass 2019 in den Schweizer Kliniken 6001 Pflegefachkräfte mit deutschem Diplom tätig waren. In Alters- und Pflegeheimen kämen 1735 Personen hinzu. Damit arbeiteten im vorvergangenen Jahr 7735 Pfleger mit deutschem Diplom in der Schweiz.
Uwe Seibel, Geschäftsführers des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) Südwest, befürchtet dennoch, dass eine Annahme der Initiative die Abwanderung von Pflegekräften aus den Grenzregionen noch verschärfen könnte. Er sagt dem SÜDKURIER auf Anfrage: „Die Schweiz ist schon jetzt für Pflegefachpersonen im Grenzgebiet ein attraktives Land“ – auch, weil das Verhältnis zwischen Patienten und Pflegekräften „deutlich besser ist als in Deutschland“.
Außerdem verfügten die Schweizer Pflegefachpersonen demnach über mehr Autonomie in ihrer Berufsausübung als in Deutschland. „Wenn nun also die Schweizer mit ihrer Initiative noch mehr Verbesserungen durchsetzen, wird die Arbeit in der Schweiz sicherlich noch begehrter als vorher“, erwartet Seibel.
Umstrukturierung gefordert
In der Schweiz sieht man das anders. Die Initiative fordert eine Umstrukturierung des Systems insgesamt, wie Ribi erklärt: bessere Arbeitsbedingungen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ausreichend Fachkräfte, um die einzelnen Pfleger zu entlasten und angemessene Löhne – das alles müsse zusammenspielen.
So seien Schichtdienste oft schlecht geplant – auch mangels ausreichendem Personal. Viele Pflegekräfte arbeiteten deshalb nur zu 80 oder 90 Prozent, weil die Belastung sonst zu hoch sei. Zudem könnten Patienten nicht optimal gepflegt werden, weil Pfleger zu viele Patienten versorgen müssten. „Wenn man bei der Patientenpflege immer Abstriche machen muss, ist das nicht attraktiv, die Pfleger tragen ja auch Verantwortung für die Patienten“, erklärt Ribi.
Schlecht bezahlt sind die Stellen im Vergleich zu Deutschland zwar nicht. Nach Angaben des Lohnbuchs 2021 verdient eine Pflegefachkraft mit HF-Abschluss (Höhere Fachschule) 5.301 Franken pro Monat, Pflegekräfte mit Fachhochschulabschluss 5.600 Franken, wie das Portal pflege-berufe.ch angibt. Allerdings liegen die Lebenshaltungskosten in der Schweiz auch deutlich höher. In einem Vergleich der OECD der Löhne von Pflegekräften mit dem Durchschnittslohn des jeweiligen Landes rangiert die Schweiz deshalb ziemlich weit hinten.
Bund will nur in Ausbildung investieren
Der Gegenvorschlag des Bundes aber sieht vor, nicht in die Arbeitsbedingungen einzugreifen. Diese lägen in der Hand der Krankenhäuser und Träger, ebenso die Lohnstrukturen. Zudem sollen die Kosten nicht steigen, die schlussendlich auf die Beitragszahler umgewälzt werden müssten. Stattdessen sieht der Gegenvorschlag zu der Initiative vor, in den nächsten acht Jahren bis zu einer Milliarde Franken in eine Ausbildungsoffensive zu investieren – um mehr junge Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen.
Doch damit wäre nichts gewonnen, hält Ribi vom Pflegeverband dagegen. Denn die Arbeitsbedingungen blieben damit, wie sie sind, so dass Pflegekräfte weiter früh aus dem Beruf aussteigen dürften.

Greift der Bund nicht ein, so die Befürchtung der Initiative, könnten auch neue Pflegekräfte bald den Beruf aufgeben. Werden sie aber behoben, könnte das den Beruf attraktiver machen: „Wir sind überzeugt, dass dann auch Aussteiger wieder zurückkehren würden“, so Ribi.
Am 28. November werden die Eidgenossen zu den Urnen gebeten. Lehnen sie die Initiative ab, wird automatisch der Gegenvorschlag umgesetzt – also ausschließlich in mehr Auszubildende investiert. Wird die Initiative angenommen, muss der Nationalrat die Forderungen umsetzen und das Bundesgesetz ändern.
Die Umfragen von Anfang November, die die Gratiszeitung „20 Minuten“ und das Redaktionsnetzwerk Tamedia initiierten, ergaben eine große Mehrheit von 77 Prozent für die Initiative.