Sarah O.‚s Weg zum IS ist in groben Zügen bekannt. Doch es bleiben viele Fragen offen, wie die einstige Konstanzer Gymnasiastin plötzlich alles aufgeben und ihre Familie verlassen konnte, um mit 15 Jahren nach Syrien zu ziehen. Heute steht die 21-Jährige vor Gericht: Der Prozess findet in Düsseldorf vor dem Oberlandesgericht statt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Umfassende Aussage vor Gericht

Die Verhandlung, die Mitte Oktober begonnen hatte, wird sich noch mindestens bis zum Herbst hinziehen. Aus dem Prozess dringen kaum Informationen nach außen. Der SÜDKURIER erfährt aber, dass Sarah ihr Schweigen im Prozess brechen und umfassend aussagen will. Der jungen Frau wird neben der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung Menschenhandel vorgeworfen.

Sarah O. wird von Justizbeamten in den Gerichtssaal geführt. Der Frau aus Konstanz wird neben IS-Mitgliedschaft unter anderem ...
Sarah O. wird von Justizbeamten in den Gerichtssaal geführt. Der Frau aus Konstanz wird neben IS-Mitgliedschaft unter anderem Menschenhandel und Freiheitsberaubung vorgeworfen. Sie soll mit ihrem Mann in Syrien ein jesidisches Mädchen sowie zwei jesidische Frauen als Sklaven gehalten haben. | Bild: David Young, dpa

Spuren führen in die Kindheit

Doch wie konnte es so weit kommen? Reichen die Wurzeln für Sarahs Entwicklung womöglich bis in ihre Kindheit zurück? Eine Informantin wendet sich an den SÜDKURIER. Zu ihrem Schutz können die Umstände, in welcher Verbindung sie zu Familie O. steht, nicht genannt werden. Wir nennen sie Rita M. (Name von der Redaktion erfunden). Die Frau hatte lange gezögert, bevor sie sich an diese Zeitung wandte. Doch ein Bericht des SÜDKURIER über das einst kleine Mädchen, das sie kannte, schließlich eine TV-Doku über deutsche IS-Frauen, stimmte sie schließlich um.

Die Frau belegt glaubwürdig, dass sie beide Mädchen der Familie O. kannte. Sarahs ältere Schwester Talia sei ein „ausgesprochen stilles, angepasstes Mädchen gewesen“. Dagegen war die kleine Sarah der Beschreibung zufolge „aufgeweckt, an allem interessiert, klug – ein kleiner ‚Wirbelwind‘“. „Sie konnte nicht genug bekommen“, wollte überall mitmachen, hatte einen „riesigen Wissensdurst“.

Schon im Kindergartenalter dem Vater getrotzt

Auch Rita M. beschreibt die plötzliche Veränderung der Familie, wie sie bereits eine andere Informantin dem SÜDKURIER beschrieben hatte. Die sonst offenbar eher leger gekleidete Mutter von Sarah verhüllte sich plötzlich mit Kopftuch und bodenlangem Gewand. Ihr Mann wolle das so, habe sie gesagt, auf die Veränderung angesprochen. Die sonst so freundlichen und offenen Gespräche gab es nicht mehr. Der Vater habe die Kommunikation für die Familie übernommen, umschreibt es Rita M.

Der Frankfurter Anwalt Ali Aydin vertritt die Konstanzer IS-Rückkehrerin Sarah O. vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf.
Der Frankfurter Anwalt Ali Aydin vertritt die Konstanzer IS-Rückkehrerin Sarah O. vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. | Bild: Moll, Mirjam

Aktivitäten für Kinder wie das Schminken des Gesichts habe er nicht erlaubt. Der Vater sei wütend geworden, als er davon Wind bekommen habe und es ihr vor allen anderen verboten. Sarah habe schon damals, als kleines Mädchen im Kindergartenalter, dem Vater getrotzt. Wollte trotzdem bemalt werden und war traurig über die Einschränkung.

Drohung mit Algerien

Schon in der Kindheit der beiden Mädchen soll der Vater den Angaben der Informantin zufolge Bitten und Hinweise von außen abgewiesen haben. Spannend: Laut M. drohte der Vater schon damals damit, die Kinder zur Verwandtschaft nach Algerien zu schicken, wenn es Einmischungen von außerhalb der Familie gebe.

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Kurz nach einem Zwischenfall in jener Zeit, als Sarah O. noch zum Kindergarten ging, trugen die Mädchen in der Öffentlichkeit Kopftücher. Ungewöhnlich früh, denn normalerweise tragen Muslima erst dann ein Kopftuch, wenn sie zum ersten Mal ihre Periode bekommen und damit nach dem Islam verantwortlich vor Allah sind. Grundsätzlich sollte aber jedes Mädchen selbst entscheiden, ob und wann es ein Kopftuch tragen möchte. Hatte Sarah diese Entscheidungsfreiheit? Und kann sie als Mädchen im Kindergartenalter so eine Entscheidung überhaupt bewusst treffen?

Keine Beweise für den Einfluss des Vaters

Die Informantin hat keine Beweise für das aktive Eingreifen des Vaters, aber, so sagt sie: „Bis heute bin ich davon überzeugt, dass Sarah diesen Wandel nicht freiwillig vollzogen hat.“

Sarah sei „eine freiheitsliebende Person, renitent dazu“ gewesen – „mit einer unglaublichen Stärke“. M. glaubt, wovon auch der Verfassungsschutz ausgeht: Als Sarah als Jugendliche zu ihren Verwandten nach Algerien geschickt wurde, habe sie sich radikalisiert. Die Informantin vermutet, dass der Vater zu dieser Maßnahme gegriffen habe, die er schon früher angedroht hatte.

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Auch denkt Rita M., dass der Vater missbilligte, wie freizügig sich Sarah in ihrer Pubertät entwickelt hatte. Dem SÜDKURIER liegen noch Archivbilder vor, wie Sarah am Konstanzer Stadtlauf teilnahm. Es ist bekannt, dass sie am Konstanzer Strandbad Hörnle im Bikini schwimmen ging, kein Kopftuch trug, wenn sie mit ihren Freunden unterwegs war.

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Der SÜDKURIER hat vor mehreren Monaten einmal mit Sarahs Vater Kontakt aufgenommen und ihn zu Hause aufgesucht. Er lehnte ein Gespräch mit dem SÜDKURIER aber ab. Der SÜDKURIER bedauert das, da wir auch die Sichtweise des Vaters wiedergeben würden. Ob und wie er in die Entwicklung Sarahs verwickelt ist, bleibt offen.