Niemand ist an diesem Tag vor dem Hochsicherheitsgebäude des Oberlandesgerichts in Düsseldorf. Der Prozess um die Konstanzer IS-Rückkehrerin Sarah O. findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Journalisten dürfen nicht einmal das Gebäude betreten. Es ist Tag zwei in einem Prozess, in dem die Suche nach der Wahrheit eine schwierige werden dürfte. Zeugen aus Sarahs Vergangenheit sollen Licht ins Dunkel bringen. Wer war die damals 15-Jährige, wie hat sie sich plötzlich verändert und was wissen ihre Mitschüler über sie?
Plötzlich fremd
Kim K. verlässt sichtlich erleichtert den Gerichtssaal. Die blonde junge Frau mit den auffallend grünen Augen war lange im Zeugenstand, über eine Stunde berichtete sie von der Sarah, die sie einmal kannte – befremdet von dem, was aus ihr geworden ist. Eine junge Muslimin, die sich plötzlich verhüllt hatte – „mit Kopftuch und Gewand“, wie sie dem SÜDKURIER erzählt. „Sie wurde introvertierter in der Zeit, bevor sie gegangen ist.“ Kim vermeidet es, vom IS oder Syrien zu sprechen. „Sie hatte mit uns nicht mehr viel zu tun“, erinnert sie sich und meint den früheren Bekanntenkreis von Sarah. „Sie hat sich abgesondert.“ Für die Mitschülerin, die Sarah seit der 1. Klasse kennt, eine bittere Pille. „Es war ziemlich hart, sie war hier (in Konstanz, Anmerkung der Redaktion) und von einem auf den anderen Tag in einer ganz anderen Welt“, sagt Kim.
Das Wiedersehen hatte sich die frühere Freundin aus Konstanz, die „relativ viel Kontakt“, aber „keine enge Freundschaft“ mit Sarah pflegte, anders vorgestellt: „Es war genauso hart, sie jetzt wiederzusehen. Weil ich sie sechs Jahre nicht gesehen habe und nicht wusste, wo sie ist.“ Und dann sitzt sie da plötzlich im Gerichtssaal: „Das war eine Begegnung, die ich in den letzten Jahren nicht erwartet hätte.“
Zäsur im Leben eines Schulleiters
Das dürfte auch für Schulleiter Jürgen Kaz zutreffen. Der Konstanzer Direktor des Humboldt-Gymnasiums will eigentlich gar nichts sagen. „Das Gericht versucht mit sehr großer Sorgfalt, die Biografie von Sarah zu rekonstruieren“, sagt er nur. Er will nicht darauf eingehen, wie die Begegnung mit seiner ehemaligen Schülerin für ihn persönlich war. „Ich bin als Amtsperson hier, meine persönliche Einschätzung hat hier nichts zu suchen“, betont er. Als Politologe besuche er regelmäßig mit Schulklassen Gerichtssäle. Aber diese Situation ist auch für ihn „eine besondere“. Es sei der erste Fall in Deutschland gewesen, der bekannt wurde – „der Weggang einer Schülerin zum IS“. „Das ist natürlich schon eine Zäsur, auch im Leben eines Schulleiters“, gesteht Kaz ein.
Er will seinen Beitrag leisten in diesem Prozess, „wenn es der Gerechtigkeit dient.“ Darüber, wie er Sarah früher erlebt hat, will er nicht mehr sprechen. Auch nicht, wie sie sich aus seiner Sicht verändert hat. „Wir kennen Sarah nur bis zu dem Zeitpunkt, bis sie uns verlassen hat.“ Danach, sagt er, sei ein „vielleicht viel wesentlicherer Teil ihres Lebens abgelaufen, den wir gar nicht kennen“.
Nicht im Zeitplan
Ronja R. aus Konstanz ist ebenfalls als Zeugin geladen. Sie hat vor ihrer Aussage mit Kim K. einen Spaziergang um das Gerichtsgebäude gemacht. Mit dem SÜDKURIER sprechen will die blonde junge Frau nicht: „Ich kann dazu leider gar nichts sagen“, weicht sie aus und lässt mit schnellen Schritten das Gerichtsgebäude hinter sich. Die Zeugen sind verunsichert, wie viel sie preisgeben dürfen von ihrem Wissen, scheint es. Die Aussage einer weiteren früheren Freundin aus Konstanz wird auf den nächsten Verhandlungstag verschoben. Der Zeitplan ist schon am zweiten Prozesstag aus dem Ruder gelaufen.
Auch Anwalt Ali Aydin, Sarah O.‚s Verteidiger, hält sich eher bedeckt: „Die Zeugen haben sich durchweg positiv geäußert.“ Sarah sei als intelligente junge Frau beschrieben worden. Der Tenor sei gewesen, dass sich Sarah verändert habe nach ihrem Besuch einer Islamschule in Algerien über den Sommer. Das war 2011. Zwei Jahre später folgte Sarah den Rufen des IS.
Die, die in den Dschihad zieht
Schulleiter Kaz habe betont, dass Sarah eben eine pubertierende Schülerin gewesen sei. Ihr verändertes Verhalten habe die Schule erst einmal der altersbedingten Pubertät zugeschrieben und auch deshalb nichts unternommen, erfährt der SÜDKURIER. Aydin wird nicht müde zu betonen, dass die junge Frau,“nichts mit radikalen Dingen zu tun hat“. Sarah O. nannte sich nach ihrem Verschwinden Amatul Aziz Al-Muhajira. Al-Muhajira – das heißt so viel wie „die, die in den Dschihad zieht“. Aus der Konstanzer Schülerin wurde eine schwarz vermummte IS-Kämpferin, die über Facebook und Google Plus zum Dschihad aufrief.
Heute ist Sarah immer noch Muslimin, sagt Aydin dem SÜDKURIER. „Sie ist jedenfalls keine Atheistin geworden“, erklärt er. Er betreut sie seit der Abschiebehaft: „Ich habe sie nie komplett verschleiert gesehen, auch nicht mit Kopftuch“, sagt er weiter. „Das war nie Thema zwischen uns.“
Dennoch fällt die starke äußere Veränderung auf: Zum Prozessauftakt trug Sarah O. einen hellgrauen Blazer und schwarze Halbschuhe, das lange Haar fiel offen über den Rücken. Eine Verteidigungsstrategie? „Ich habe ihr nie geraten, dass sie es so machen soll“, betont Aydin. „Die Kleider hat wahrscheinlich ihre Familie für sie gekauft, wie sie es wollte.“
Akribische Studie
Es dürfte eine der zentralen Fragen in diesem Prozess sein: Inwieweit hat sich eine damals 15-Jährige von der Propaganda fesseln lassen – und welche Spuren haben die dogmatischen Schriften, die Sarah geradezu akribisch studierte, wie aus Informationen des Landesverfassungsschutzes hervorgeht, hinterlassen?
Die Menschen, die sie früher kannten, kennen Sarah heute nicht mehr. „Das war ein kurzer Lebensabschnitt“ für die damaligen Mitschüler, betont Anwalt Aydin.
Dennoch ist die Zeit vor Sarahs Ausreise wesentlich für die Radikalisierung der jungen Frau. Diese Phase zu rekonstruieren, dürfte nicht einfach werden. Am heutigen Prozesstag sollen weitere frühere Mitschüler und Bekannte aussagen. Und erzählen – von der Sarah von damals.