An die zurückliegende Woche wird man sich lange erinnern. Erfreulich schnell kam es in Rom zur Wahl eines neuen Papstes, unerfreulich mühsam gestaltete sich in Berlin die Wahl des neuen Bundeskanzlers. 18 Dissidenten verweigerten Friedrich Merz im ersten Durchgang ihre Stimme, vermutlich, weil sie ihr Ego über die politische Verantwortung eines Bundestagsabgeordneten und Fraktionsmitglieds stellten.
„Beschädigt“ ins Kanzleramt?
Nicht minder unerfreulich war die bei vielen öffentlichen Kommentatoren lebendige Lust an der Frage, wie „beschädigt“ Friedrich Merz nun in sein Amt gestolpert sei und wie belastend sich die misslungene erste Abstimmung bei seinen ersten Auslandsreisen erweise. Mit dieser Kaffeesatzleserei können sich deutsche TV-Talkrunden durchaus eine geschlagene halbe Stunde beschäftigen, was bei vielen Zuschauern den Eindruck erhärtet, „die in Berlin“ seien an praktischer Politik gar nicht interessiert.
Im Gegensatz zu fast allen seinen Vorgängern im Kanzleramt ist Merz mit geringem Vertrauensvorschuss ins Kanzleramt eingezogen. Das liegt an der langen und altbekannten Litanei, die das Bild einer Fehlbesetzung bestätigen soll, die selbst in der eigenen Partei zu wenig Rückhalt besitzt.
Der Anti-Merz-Werkzeugkasten
Merz‘ mehrfache Anläufe, um die Spitze der CDU zu erobern, seine beim US-Investmentriesen Blackrock verdienten Millionen, sein Flugzeug, seine fehlende Erfahrung als Minister, seine von der AfD gestützte migrationspolitische Dampframme im Bundestag (“Sündenfall!“) und seine vermeintlich brüsk gebrochenen Wahlversprechen, denen Neuschulden in Höhe von fast einer Billion Euro folgen, wie auch seine gelegentliche rhetorische Hemdsärmeligkeit: Der Werkzeugkasten für die Attacken auf Merz ist reichlich gefüllt.
Zugegeben. Auch als Helmut Kohl Kanzler wurde, stand die Front der vereinigten Kritiker in geschlossener Formation. „Birne“ war noch die harmloseste Variante des Spotts über einen Pfälzer, „der es nicht kann“.
Lkw-Ladungen von Problemen
Damals allerdings waren die Aufgaben, die auf den Kanzler warteten, Sandkastenspiele im Vergleich zu den Lkw-Ladungen von Problemen und ungelösten Aufgaben, vor denen Friedrich Merz und sein Kabinett stehen. Umso mehr wundert man sich über die vielstimmige Aufgeregtheit und das fast freudige Interesse, jeden noch so kleinsten Dreckbollen am Schuh des neuen Kanzlers unter die Lupe zu nehmen.
Immerhin hat dieser in den ersten Tagen seiner Amtszeit bei den Besuchen in Paris, Warschau und Brüssel eine seit langem vermisste außenpolitische Tatkraft bewiesen. Sein Vorgänger hat die Kontakte nach Frankreich und Polen einrosten lassen und zeigte sich in Brüssel wegen der Ampel-Querelen als lahme Ente.
Politik der untätigen Hand soll enden
Merz macht klar, dass er diese Politik der untätigen Hand beenden will – was angesichts der weltpolitischen Lage mit Blick auf Putins Russlands und Trumps Amerika unabdingbar ist und von den europäischen Partnern ersehnt wird. Seit einem halben Jahr warten alle auf Deutschland. Jetzt zeichnet sich die Bereitschaft zu Führung und Verantwortung ab, die unter dem zögerlichen Olaf Scholz schmerzlich vermisst wurde.
Merz will in der Außenpolitik etwas bewegen, was er in der Wahl seines Parteifreunds Johann Wadephul als Chef im Auswärtigen Amt unterstrichen hat. Allerdings sind die Zeiten, in denen man nach außen punkten konnte, während es im Innern schlecht lief, vorbei. Auch hier lastet auf Merz enormer Druck, nicht zuletzt durch die weiter erstarkte AfD. Ihre Anhänger sind nicht durch eine Verbotsdiskussion zurückzugewinnen, sondern nur durch eine andere Politik, die sich von den Ampel-Wirren fundamental unterscheidet.
Der Wille zu mutigen Veränderungen ist erlahmt
Diese Herausforderung wird durch den Koalitionspartner SPD und seines linken Flügels erschwert. Hinzu tritt indes ein anderes, schwerwiegenderes Moment: In den beiden Unionsparteien wie auch bei der SPD ist der Wille zu umfassenden und mutigen politischen Veränderungen erlahmt. Vor so etwas wie einem wuchtigen Machtwechsel scheut man zurück.
Nichts zeigt das deutlicher als Merz‘ Entscheidung, die Arbeit an einer längst überfälligen Reform unserer Sozialsysteme zunächst in eine Expertenkommission zu verlagern. Obwohl die finanziellen Pfeiler für Rente, Pflege und Gesundheit immer wurmstichiger werden, scheint man weiter alle Zeit der Welt zu haben, um den Sozialstaat zukunftsfest zu machen. Die Zukunft aber ist heute.
Sicherheit braucht eine florierende Wirtschaft
Man täte sich leichter mit Reformen, würde die Union mit mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen im Rücken in den Kampf ziehen. Doch die Rückkehr dieser Zeiten ist illusionär. Ums Liefern kommt Schwarz-Rot dennoch nicht herum, will man auch sozialpolitisch das hinbekommen, was den Deutschen so wichtig ist: Sicherheit. Sie ist ohne den Motor der Wirtschaft nicht zu denken. Dort haben Merz und sein Team Expertise. Jetzt muss man zeigen, dass man es besser kann als die Vorgänger.