Eigentlich ist es ein Etikettenschwindel, der da über dem Vierwaldstättersee stattfindet. Denn klar ist schon jetzt, der von der Schweiz als Friedenskonferenz angekündigte Gipfel auf dem Bürgenstock wird keinen Frieden für die Ukraine bringen. Russland wird nicht dabei sein, und auch China dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht an dem Treffen teilnehmen.

Welchen Sinn hat es also, wenn sich ab dem 15. Juni Vertreter und Staatschefs von rund 100 Ländern in dem abgeschotteten Luxushotel bei Luzern treffen?

Bündnisfreie Schweiz als Vermittlerin?

Fahrt aufgenommen hatte die Idee im Januar dieses Jahres, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Bern mit der Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd über mögliche Schritte hin zu einem Frieden sprach. Seit mehr als zwei Jahren wehrt sich die Ukraine gegen eine großangelegte Invasion durch Russland, auf dem Schlachtfeld gibt es inzwischen kaum noch Geländegewinne für die eine oder andere Seite.

Die Bundespräsidentin der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Viola Amherd, dämpft die Erwartungen in die Konferenz.
Die Bundespräsidentin der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Viola Amherd, dämpft die Erwartungen in die Konferenz. | Bild: Peter Schneider/Keystone/dpa

Die bündnisfreie Schweiz trägt zwar die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland mit, fühlt sich aber auch als Vermittlerin berufen. Schon in der Vergangenheit diente sie als Schauplatz von diplomatischen Gesprächen, etwa bei der Zypern-Frage und bei anderen Konflikten.

Ziel ist nicht ein Friedensvertrag

Die Bürgenstock-Konferenz soll nun erste Schritte in Richtung eines Friedensprozesses erarbeiten. „Die Erwartung ist nicht, dass wir an der Konferenz einen Friedensvertrag unterschreiben, der direkt umgesetzt werden kann“, dämpft jedoch Bundespräsidentin Amherd den Optimismus.

Stattdessen dürfte Präsident Selenskyj versuchen, möglichst viele Regierungen auf die Seite Kiews zu ziehen. Gegenüber der „New York Times“ betonte er, zu Beginn gehe es um die Stabilisierung der ukrainischen Lebensmittelexporte in Entwicklungsländer, einen Gefangenenaustausch, die Sicherung des russisch besetzten Atomkraftwerks Saporischschja im Südosten der Ukraine und die Rückkehr der ukrainischen Kinder, die Russland verschleppt hat.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erhofft sich breite internationale Unterstützung.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erhofft sich breite internationale Unterstützung. | Bild: Vincent Thian/AP/dpa

Hinter vorgehaltener Hand äußern Schweizer Offizielle die Befürchtung, dass Selenskyj das Treffen nach Belieben dominieren könnte.

Ganz praktische Hürden für die Anwohner

Vorbehalte und Ärger regte sich zuletzt auch bei den Anwohnern des Hotelkomplexes auf dem Bürgenstock. Bei einer Bürgerinformationsveranstaltung Anfang Mai mit den Verantwortlichen der Polizei und des Kantons Nidwalden äußerten die Menschen etwa die Sorge vor Terroranschlägen auf das Luxusresort.

Doch auch ganz praktische Hürden im Alltag wurden vorgebracht: Wo soll man angesichts der Sicherheitszone um das Hotel noch joggen gehen? Wie kommen die Gäste zur geplanten Kindergeburtstagsfeier einer Anwohnerin? Und warum müssen für die Konferenz Rehkitze sterben?

Sorge um die Rehkitze

Das müssen sie natürlich nicht. Aber weil seit Donnerstagmittag im Umkreis von 28 Kilometern rund um den Bürgenstock ein absolutes Flugverbot herrscht, dürfen auch die Drohnen der Revierjäger nicht aufsteigen. Diese überfliegen Wiesen vor dem Mähen mit Infrarotkameras, um im hohen Gras nach Rehkitzen zu suchen, die sonst von den Mähmaschinen getötet würden.

Das könnte Sie auch interessieren

Bundespräsidentin Amherd riet daher zu Pragmatismus: Die Landwirte sollten einfach auf alte Methoden zurückgreifen und die Wiesen vorher ablaufen, um die Tiere zu verscheuchen. Zudem fordern die Betreiber mehrerer kleiner Flugplätze im Umkreis mehrere Hunderttausend Franken Entschädigung, weil von dort während der Konferenz keine Flugzeuge abheben dürfen. Die Sorgen der Menschen um den Bürgenstock sind offensichtlich ganz andere als jene der Ukrainer, um die es bei dieser Konferenz gehen soll.

4000 Soldaten, Hunderte Polizisten

Tatsächlich werden sich die Anwohner am Vierwaldstättersee bis zum 17. Juni aber ein wenig einschränken müssen. Rund 4000 Soldaten der Schweizer Armee haben das Gebiet abgeriegelt, Dutzende Polizeiposten in der Innerschweiz und im Thurgau mussten zeitweise geschlossen werden, weil die Beamten am Bürgenstock im Einsatz sind.

Soldaten der Schweizer Armee überwachen das Gelände der Helikopter-Basis in Obbürgen.
Soldaten der Schweizer Armee überwachen das Gelände der Helikopter-Basis in Obbürgen. | Bild: Urs Flueeler/Keystone/dpa

Ganz unmittelbar zu spüren und zu sehen sind die Sicherheitsmaßnahmen etwa im Nachbarort Stansstad, wo die Armee Stacheldrahtzäune aufgebaut und Straßensperren errichtet hat. Patrouillenboote röhren über den Vierwaldstättersee, Kampfjets donnern durch die Täler und im Dorf Obbürgen wurde ein provisorischer Hubschrauberlandeplatz für die Staatsgäste aufgebaut – direkt neben dem Misthaufen eines Bauernhofs.

Wer in die Sperrzone will, wird von Kopf bis Fuß durchleuchtet. Wonach die Polizei dabei genau sucht, sagt Polizeichef Stephan Grieder zwar nicht, aber: „Wenn Sie Sprengstoff im Auto mitführen, dann geht das natürlich nicht.“

Hotelanlage Bürgenstock: Selbst James Bond war schon dort

US-Präsident Biden schickt Kamala Harris

Erwartet werden zu der zweitägigen Konferenz Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Dutzende weitere Staats- und Regierungschefs. US-Präsident Joe Biden schickt seine Vizepräsidentin Kamala Harris.

Bidens Abwesenheit schmälert das politische Gewicht der Konferenz – die USA leisten bislang von allen Ländern mit Abstand die größte Hilfe für die Ukraine. Zudem signalisierte China, dass mit einer Delegation aus Peking nicht zu rechnen ist. Die Chinesen unterhalten enge Beziehungen zu Russland und könnten Präsident Wladimir Putin entscheidend beeinflussen.

Russland übt auf andere Staaten Druck aus

Dieser hält ohnehin den Schlüssel für Krieg und Frieden in der Hand. Doch die Schweiz hat Vertreter des Kreml-Machthabers nicht zu der Konferenz eingeladen und Russland hat bereits mehrfach öffentlich betont, dass man kein Interesse an einer Teilnahme an diesem Gipfel habe. Dennoch will die Schweiz das Land in den Prozess mit einbeziehen.

„Ein Friedensprozess ohne Russland ist undenkbar“, heißt es aus dem Schweizer Außenministerium. Wie die Regierung die Russen bei diesem Treffen oder bei künftigen Konferenzen noch an Bord holen wollen, sagen sie nicht.

In eine schwierige Lage hineinmanövriert

„Es ist zu hoffen, dass sich aus dem Treffen auf dem Bürgenstock eine Dynamik entwickelt, die beim nächsten Treffen, wo auch immer dieses stattfindet, dafür sorgen wird, dass auch Russland beteiligt sein wird“, sagt dazu der Schweizer Politikwissenschaftler Laurent Goetschel. Doch auch Diplomaten bei den Vereinten Nationen kritisieren, dass sich die Schweizer mit der Nichteinladung zur Bürgenstock-Konferenz in eine schwierige Lage hineinmanövriert haben. „Das Ignorieren der Russen ist ein Fauxpas“, sagt ein Unterhändler.

Sergej Lawrow, Außenminister von Russland.
Sergej Lawrow, Außenminister von Russland. | Bild: Jesus Vargas/dpa

Entsprechend sind die Reaktionen aus Russland, das die Schweiz seit Monaten verbal immer wieder scharf attackiert. Außenminister Sergej Lawrow raunt, die Schweiz habe sich von einem neutralen Staat in ein „offen feindseliges Land“ verwandelt.

Globaler Süden und Osten bleibt größtenteils fern

Moskau versucht, mit wirtschaftlichem und politischem Druck möglichst viele Staaten von der Ukraine-Konferenz fernzuhalten. „Die Mehrheit der Führungspersönlichkeiten des globalen Ostens und Südens werden diesem Treffen nicht beiwohnen“, sagt Russlands Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf, Gennadi Gatilow, gegenüber dem SÜDKURIER. Für ihn sei klar: Ohne Russland mache das Stelldichein keinen Sinn. Nur die Hotelindustrie in der Region werde gewinnen, höhnt Gatilow.

Das könnte Sie auch interessieren

Politikwissenschaftler Goetschel wiederum erkennt trotz aller Kritik einen Wert in der Zusammenkunft: „Dass überhaupt eine solche Konferenz stattfindet, zeugt von der Bedeutung, welche die teilnehmenden Staaten der Beendigung des Krieges und der Lösungsfindung beimessen“, erläutert er.

„Je breiter und diverser die Teilnehmerschaft sein wird, umso repräsentativer werden die erzielten inhaltlichen Ergebnisse sein.“ Welche das sein werden, muss sich an diesem Wochenende nun zeigen. Es steht viel auf dem Spiel: Für die Ukraine, für die Schweiz, für die teilnehmenden Staaten. Und so manche Anwohner dürften einfach froh sein, wenn am Bürgenstock wieder Ruhe einkehrt.