Wenn Mitte Juni Delegationen aus 160 Staaten zur Ukraine-Friedenskonferenz in der Schweiz anreisen und in der Luxushotelanlage Bürgenstock über dem Vierwaldstättersee ein nobles Quartier beziehen, wird damit die politische Tradition des Ortes neu belebt.

Der gute Ruf der neutralen Schweiz gründet sich nicht nur auf Genf, wo die Vereinten Nationen ihren zweiten Hauptsitz haben, oder auf Locarno am Lago Maggiore, wo nach dem Ersten Weltkrieg 1925 europäische Friedenspolitik einen Höhepunkt fand, sondern auch auf illustre Orte wie den Bürgenstock. Der bot sich schon Anfang der 1950er-Jahre für Prominenz aus vielen Ländern eine medial gut ausgeleuchtete Bühne.

Die Bundesrepublik war erst 14 Monate alt

Die Bundesrepublik Deutschland war erst seit 14 Monaten durch die Verabschiedung des Grundgesetzes im Mai 1949 aus der Taufe gehoben, als Kanzler Konrad Adenauer – Chef der CDU und mit 74 Jahren am Anfang seiner staatsmännischen Karriere – auf den Bürgenstock reiste. Vom 13. Juli bis zum 11. August 1950 sollte der vierwöchige Urlaub in den Schweizer Bergen dauern. Aber wer den Kanzler hier nur hemdsärmelig in der „Sommerfrische“ sah, wie man damals sagte, sollte sich täuschen.

Politik war für das Arbeitstier Adenauer immer. Entweder spielte sie gerade in Nordrhein-Westfalen, wo sich sein innerparteilicher, dem christlichen Sozialismus geneigter Gegner Karl Arnold anschickte, eine neue Regierung zu bilden, oder sie tobte als heißer Konflikt in Korea, wo der kommunistische Norden den Süden überfallen hatte, was einen Dritten Weltkrieg befürchten ließ.

Keine Entscheidung ohne den Kanzler

Es war für den Kanzler, der im Kabinett dafür berüchtigt war, alles unter seiner Kontrolle halten zu wollen, nicht daran zu denken, die Bonner Stallwache allein in die Hände des Vizekanzlers und FDP-Chefs Franz Blücher zu legen. Der schielte auf den Stuhl des Außenministers – ein Amt, das Adenauer selbst ausfüllte.

Blücher hatte sich erhofft, während des Urlaubs des „Alten“, wie man Adenauer ehrfürchtig nannte, im Vize-Amt seine Kontur zu schärfen. Doch jener hinterließ ihm vor der Abreise einen detaillierten Brief, der dieses Ansinnen zunichtemachte, wie Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz schreibt.

„Werde ein kleines Büro mitnehmen“

Demnach bemerkte der Kanzler, es sei in Anbetracht der „außerordentlich gespannten Lage“ nicht möglich, sich „während dieser Zeit ganz von den Regierungsgeschäften zurückzuziehen“. Er werde daher ein „kleines Büro, dem die Herren Ministerialrat Dr. Rust und Oberregierungsrat Ostermann angehören, mit nach Bürgenstock nehmen“.

Dort leistete auch Adenauers Privatsekretärin Lucie Hohmann-Köster ihre unentbehrlichen Dienste. Das Kanzleramt war vom Palais Schaumburg auf den Bürgenstock umgezogen. Für die familiäre Umrahmung des Witwers Adenauer sorgten dessen Töchter Lotte und Ria.

Der erste Bundeskanzler und damalige Chef der CDU mit seiner Tochter Lotte über dem Vierwaldstätter See. Auch Tochter Ria begleitete den ...
Der erste Bundeskanzler und damalige Chef der CDU mit seiner Tochter Lotte über dem Vierwaldstätter See. Auch Tochter Ria begleitete den Patriarchen Adenauer in den Sommerurlaub. | Bild: dpa

In der Berliner Republik wäre ein mobiles Kanzleramt kaum denkbar. Wenn Olaf Scholz wandern geht, übernimmt Christian Lindner. Adenauer ging autokratisch vor und behielt alle wichtigen Fäden in der Hand. So auch die brisanten Verhandlungen um den Schuman-Plan, den der gleichnamige französische Außenminister vorgelegt hatte, um das Fundament einer europäischen Einigung zu legen.

So pendelte Adenauers Unter-Außenminister Herbert Blankenhorn zwischen Bonn, Paris und dem Bürgenstock, um den Chef auf dem Laufenden zu halten. Weiterer Gast aus Bonn: Bundespräsident Theodor Heuss, der privatim anreiste.

Konrad Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss 1950 auf der Terrasse des Palace-Hotels auf dem Bürgenstock. Heuss kam als Privatmann.
Konrad Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss 1950 auf der Terrasse des Palace-Hotels auf dem Bürgenstock. Heuss kam als Privatmann. | Bild: dpa

Adenauer selbst hatte gute Gründe, seine Residenz über dem Vierwaldstätter See aufzuschlagen. Da gab es zunächst die politische Verbindung zwischen Bonn und Bern. Die Schweiz war nach dem Zweiten Weltkrieg eines der ersten Länder, das die Beziehungen zu Deutschland normalisiert und wieder intensiv zu pflegen begonnen hatte. Dass der große Nachbar noch wenige Jahre zuvor von Nazis beherrscht wurde, stellte kein Problem dar. Man sah die Dinge pragmatisch.

Berg-Urlaub im Wallis schon in den 20er-Jahren

Dazu kam eine persönliche Neigung Adenauers, der schon in den 20er-Jahren mehrmals mit seiner Frau Auguste (“Gussie“) und den noch jugendlichen Kindern Konrad, Max und Maria aus seiner ersten Ehe mit Emma (geborene Weyer) im Kanton Wallis Urlaub gemacht hatte. Das Bergstädtchen Chandolin im Val d‘Anniviers bot eine im Vergleich zum Bürgenstock bescheidene Unterkunft ohne fließendes Wasser.

Die zahlreichen Koffer der Familie des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Adenauer mussten von zwölf Mauleseln auf 2000 Meter Höhe bergan geschleppt werden. Auf dem steilen Anstieg von der Talstation Les Pontis ging es nur zu Fuß weiter.

Auch Graf Zeppelin war da

Das abgeschiedene Chandolin galt schon vor dem Ersten Weltkrieg als Geheimtipp. Hier war Stille garantiert. Das Gästebuch der Stadt verzeichnete so prominente Namen wie den des Luftschiff-Konstrukteurs Ferdinand Graf von Zeppelin, des Großadmirals Alfred von Tirpitz, des Ballonfliegers und Tiefsee-Pioniers Auguste Piccard oder des Komponisten Paul Hindemith.

Auf dem Bürgenstock dagegen mischte Adenauers „fliegendes Kabinett“, wie die Pariser Tageszeitung „Le Monde“ süffisant bemerkte, die beschauliche Szenerie auf. Der Kanzler wurde von Journalisten aufgesucht, denen er Interviews gab, und von Fotografen begleitet.

Staatspräsident Israels weilt auch auf dem Bürgenstock

Aber er war 1950 nicht der Einzige Polit-Pominente, der die Aussicht auf den Vierwaldstättersee genossen hat. Auf dem Dach des Palace-Hotels wehte neben der mittig platzierten Schweizerfahne und dem schwarz-rot-goldenen Tuch die Flagge Israels. Der andere hohe Gast war Staatspräsident Chaim Weizmann.

Chaim Weizmann, der erste Staatspräsident Israels, war 1950 ebenfalls Urlauber auf dem Bürgenstock. Zu Adenauer gab es allerdings keinen ...
Chaim Weizmann, der erste Staatspräsident Israels, war 1950 ebenfalls Urlauber auf dem Bürgenstock. Zu Adenauer gab es allerdings keinen Kontakt. | Bild: AFP

„Die beiden gehen einander aus dem Weg“, schreibt Hans-Peter Schwarz. Denn ein Treffen wäre äußerst brisant gewesen und in Israel so kurz nach dem Holocaust kaum gebilligt worden. Es sollte noch zehn Jahre dauern, bis es im März 1960 zwischen Adenauer und Israels erstem Regierungschef David Ben Gurion zum legendären Treffen im Hotel Waldorf Astoria in New York kam – dem Beginn einer Freundschaft, die bis zu Adenauers Tod 1967 währen sollte.

Besuch beim Einsiedler Niklaus von Flüe

Der praktizierende Katholik Adenauer suchte dagegen Inspiration in der Einsiedelei des Schweizer Nationalheiligen Niklaus von Flüe (1417-1487) bei der Ortschaft Flüeli-Ranft im Melchtal. Der Seelsorger und vormalige Offizier und Ratsherr beriet schon zu Lebzeiten ausländische Staatsmänner wie den Mailänder Herzog Ludovico Sforza und war erste drei Jahre vor Adenauers Besuch heiliggesprochen worden.

So wie Adenauer zu Niklaus pilgerte, wandelten die Besucher auch beim zweiten Urlaub 1951 zum Bonner Kanzler. Der Besucherstrom schwoll an, etwa durch eine Delegation des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) oder durch eine Abordnung von Pfadfindern in Lederhosen 1952, die dem Kanzler auf der Klampfe ein Ständchen mit Gesang darbrachten. Selbstverständlich fand sich auch die Fraktionsspitze der Union im Kanton Nidwalden ein. Adenauer zeigte sich in den Bergen „bestens regeneriert“, wie Hans-Peter Schwarz berichtet.

Besuch in Lederhosen: Eine Abordnung junger Pfadfinder sucht den Kanzler im Sommer 1952 zum Gespräch auf dem Bürgenstock auf.
Besuch in Lederhosen: Eine Abordnung junger Pfadfinder sucht den Kanzler im Sommer 1952 zum Gespräch auf dem Bürgenstock auf. | Bild: dpa

1952 kam der Kanzler ein letztes Mal zum Bürgenstock. Dann spürte er Gegenwind. Die Schweizer Presse ließ sich über den deutschen Politrummel kritisch aus. War er mit der Neutralität noch vereinbar? 1953 verlegte Adenauer den Regierungssitz in ein nicht weniger traditionsreiches Hotel: Die Bühlerhöhe bei Baden-Baden im Schwarzwald. Das Haus steht seit 2010 leer. Gelegentlich dient es für TV-Filme als Kulisse.