Liebe Leserinnen und Leser,

dieses bewegte Jahr geht sehr traurig zu Ende. In einem unbeschwerten Augenblick, in dem Menschen voller Vorfreude auf das Fest über den Weihnachtsmarkt bummeln, zerstört ein blindgläubiger Mörder menschliche Existenzen.

„Wieso du, wieso nur“, schreibt die Mutter des getöteten Neunjährigen bei Facebook und es zerreißt einem das Herz. Statt noch viele Momente des Glücks gemeinsam mit ihrem Sohn erleben zu können, trägt sie ihn nun zu Grabe. Weil sich der Hass in einem einzelnen Kopf Bahn bricht und nicht zu stoppen war.

Die Macht, das Land zu spalten

Voller Anteilnahme und Schrecken blicken wir auf die Bilder aus Magdeburg und voller Sorge. Denn die Bilder haben die Macht, unser Land weiter zu spalten. In diejenigen, die sich um eine differenzierte Sicht auf die Dinge bemühen und diejenigen, die einfache Antworten geben. In diejenigen, die verstanden haben, dass Deutschland längst ein babylonisches Gefüge von Menschen aus aller Herren Länder geworden ist und diejenigen, die Geflüchtete nach dieser monströsen Tat in Generalverdacht nehmen.

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Für grob geschnitzte Ableitungen taugt der Anschlag von Magdeburg nicht. Ein Araber, der als Arzt arbeitet, den Islam bekämpft, mit der AfD sympathisiert, sich radikalisiert und zum Mörder wird. Dass ein Attentäter all diese Merkmale in seiner Person vereinen könnte, hätte die meisten Menschen vor der Tat in ihrer Fantasie überfordert. Aber auch Ärzte, wie der Mörder von Magdeburg einer ist, sind nicht davor gefeit, selbst krank zu sein. Krank vor Hass, krank vor Wut, einfach krank in jeder Hinsicht.

Rassisten und Realitätsverweigerer

Rechtsnationale Banden zogen sofort auf die Straße und wollten billiges, politisches Kapital aus der Tat schlagen. Während einer Schweigeminute im Stadion von Essen rief ein Mann „Deutschland den Deutschen“. Ihm wurde ein „Halt die Fresse“ entgegnet und Sekunden später vom ganzen Stadion „Nazis raus“. Die Stimmung ist aufgeheizt und wir müssen sie abkühlen.

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Punkt. Wer „Deutschland den Deutschen“ denkt, ist nicht nur ein Rassist, er ist ein Realitätsverweigerer. Mehr als 122 Millionen Menschen sind auf unserem Erdball auf der Flucht, davon 47 Millionen Kinder – in Summe 1,5 Prozent der Weltbevölkerung.

Im Buhimba-Flüchtlingscamp in der Demokratischen Republik Kongo werden zu Weihnachten Geschenke an die Kinder verteilt.
Im Buhimba-Flüchtlingscamp in der Demokratischen Republik Kongo werden zu Weihnachten Geschenke an die Kinder verteilt. | Bild: JOSPIN MWISHA, afp

Das sind elende Zahlen, die an Verstand und Vernunft der Menschheit zweifeln lassen. Und es ist die Pflicht der zivilisierten Welt, die Herzen und Arme zu öffnen und die Verfolgten aufzunehmen – auch wenn es uns zunehmend schwerzufallen scheint, in den eigenen Grenzen der Republik Platz und Möglichkeiten zu finden.

Laut Statistischem Bundesamt leben in Deutschland 2,2 Millionen Schutzsuchende, also Menschen, die sich aus humanitären Gründen bei uns aufhalten, hinzu kommen 1,2 Millionen Ukrainer. Das sind hohe Zahlen, keine Frage – aber unterm Strich gerade vier Prozent der Bevölkerung.

Das Gerüst unseres christlichen Weltbilds

Wir dürfen dankbar dafür sein, in einer Gesellschaft zu leben, die sich hochherzig und anteilnehmend zeigt und nicht kalt und abweisend. Die aus zutiefst ehrenwerten Motiven Schwachen unter die Arme greift und ihnen das gewährt, was sie in ihrer Heimat nicht mehr finden können: Frieden, ein heiles Dach über dem Kopf und ausreichend Nahrung. Um diese zugewandte gesellschaftliche Grundstimmung Fremden gegenüber müssen wir kämpfen, denn sie ist Gerüst unseres Wertesystems, unseres humanistischen und christlichen Weltbildes.

Dazu gehört auch, dass wir stärker einfordern, was wir dafür erwarten. Die Achtung unserer Regeln und Gesetze, Fleiß und Einsatzbereitschaft. Eine aufnehmende Gesellschaft muss erwarten, dass Geflüchtete nicht nur nehmen, sondern auch geben. Und dass diejenigen wieder gehen müssen, die sich daran nicht halten wollen. Das ist dann nicht inhuman, das ist zutiefst human gegenüber all denjenigen, die unsere Werte teilen.

Seit 79 Jahren leben wir in Frieden

In unserem Land herrscht seit mehr als 79 Jahren Frieden. Niemand wird verfolgt, weil er anders denkt oder spricht, oder weil er an wen auch immer glaubt. Wir sind in jeder Hinsicht frei. Ich wünsche mir, dass es so bleibt. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die behaupten, man dürfe nicht mehr alles sagen. Diese Behauptung war schon immer haltlos und schwach – natürlich darf man alles sagen, gerne sogar viel häufiger als im Moment. Das freie Wort und die Debatte darüber sind Saat und Ernte einer Demokratie. Wenn wir das aufgeben, gewinnt das Übel.

Das Weihnachtsfest gibt uns den Glauben an das Gute. Ich glaube fest daran. Und wünsche Ihnen von Herzen ein fröhliches, gesundes und gesegnetes Weihnachten,

Ihr Stefan Lutz