Vorsicht, ein Chamäleon: Wenn von Übergriffigkeit des Staates die Rede ist, gilt es, genau hinzusehen. Ein Chamäleon kann sich seiner Umgebung nahezu bis zur Unsichtbarkeit anpassen. Wird es bemerkt, ist es meist zu spät. Das Viech kann sich auch sehr demonstrativ sichtbar machen. Genauso ist es bei staatlicher Übergriffigkeit.

Der Staat geht über seine notwendige Regelungskompetenz hinaus und greift tief in die individuelle Freiheit seiner Bürger ein – als Gesetzgeber oder vollziehende Gewalt. Wo die Grenze verläuft, ist eine Frage der Betroffenheit. Für militante Haus- und Waldbesetzer leuchtet das Chamäleon in seiner ganzen Pracht. Dem braven Steuerbürger zeigt es sich erst auf der Gehaltsabrechnung.

Corona zeigt der Politik ihre Grenzen

Wird der Staat übergriffig, geschieht dies seltener im Einzelfall. Meist sind viele betroffen, oft sogar alle. Entsprechend breit gestreut ist auch der Protest. Aufbegehren gegen staatliche Maßnahmen gegen Corona sah man nicht nur bei der politischen Rechten und systemfeindlichen Querdenkern.

Auch Liberale protestierten gegen die als übergriffig empfundenen Beschränkungen persönlicher Freiheit. Zwar ging es der liberalen Kritik nicht prinzipiell um das System, sondern nur um eine vorsätzliche oder fahrlässige Überdehnung der Staatsrolle. Der Anlass dagegen war gleich: Reise- und Kontaktverbote, Mobilitätsschranken, Schließung von Schulen und Kindergärten, Geschäften, Restaurants und Kneipen, Maskenpflichten.

Und tatsächlich: Immer wieder mussten unabhängige Gerichte Staat und Behörden korrigieren. Das war eine ganz neue Erfahrung. Politischem Krisenmanagement wurde vom Rechtsstaat auf breiter Front aufgezeigt, wo die Grenzen zur staatlichen Übergriffigkeit liegen. In dieser Dimension gab es das in Deutschland nie zuvor.

Schulen und Kitas sind geschlossen, stattdessen müssen Eltern sich zu Hause um ihre Kinder kümmern – so war das im Corona-Lockdown.
Schulen und Kitas sind geschlossen, stattdessen müssen Eltern sich zu Hause um ihre Kinder kümmern – so war das im Corona-Lockdown. | Bild: Rolf Vennenbernd/dpa

In der Corona-Pandemie hat Übergriffigkeit des Staates ein neues Gesicht gezeigt. Auch wenn es nur wenige öffentlich aussprechen, wie Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul: Der Politik ist heute klar, dass zumindest die Schul- und Kitaschließungen, aber auch manche persönlichen Kontaktverbote, zu weit gingen. Die Sache ist auch noch nicht ausgestanden. Long-Covid als Langzeitfolgen einer Infektion, aber auch teils heftige Nebenfolgen der Impfungen wirken nach.

Das Scheitern einer allgemeinen Impfpflicht im Bundestag aufgrund der Skepsis quer durch alle Parteien erhält bei den aktuellen Befunden über seltene, aber eben vorkommende Impfschäden fast die nachträglichen Weihen einer bösen Vorahnung. Und der Satz des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn – „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ – hat im Nachhinein das Zeug für historische Zitatensammlungen.

Übergriffigkeit ist kein neues Phänomen

Das Prinzip der fürsorglichen Entmündigung durch den Staat, die vielfach als politische Übergriffigkeit empfunden wird, begleitet die Bundesrepublik schon seit ihrer Gründung. In den ersten Jahrzehnten waren es besonders Wiederbewaffnung und Wehrpflicht, Notstandsgesetze oder Radikalen-Erlasse für den Staatsdienst.

Ältere erinnern sich an die Gebietsreformen auch in Baden-Württemberg, bei denen auf Kultur und Lebensbezüge wenig Rücksicht genommen wurde. Villingen-Schwenningen existiert bis heute, aber in Hessen überlebte die staatlich verordnete Fusion von Wetzlar und Gießen zur neuen Stadt Lahn ganze zwei Jahre.

Später geriet die Rolle des Staates etwa in Fragen zum Beginn und Ende menschlichen Lebens in die Diskussion. Immer geht es um persönliche Freiheit und den Gestaltungsspielraum zwischen Individuum und Gesellschaft – und immer konkurriert dabei politisch eine eher liberale, auf persönliche Verantwortung setzende Staatsferne mit kollektiven Entwürfen bis hin zum Sozialismus. Und den halten ja nach den Worten des ehemaligen großen Staatslenkers Erich Honecker weder Ochs noch Esel auf.

Wo hört persönliche Freiheit auf? Das Thema Abtreibung stand und steht immer wieder in der Diskussion.
Wo hört persönliche Freiheit auf? Das Thema Abtreibung stand und steht immer wieder in der Diskussion. | Bild: Silas Stein/dpa

Normen und Regeln, Verbote und Gebote, Vorschriften und Verwaltungsentscheide: Schon im Dickicht der Paragrafen zeigt sich tendenziell eine überregulierende Anmaßung des Staates. In liberaler Sicht entlarvt sich darin zugleich ein strukturelles Misstrauensvotum gegenüber der Vorstellung vom mündigen Bürger. Ein paar Zahlen dazu: Laut Bundestag gab es 2022 insgesamt 1773 Bundesgesetze mit 50.738 Paragrafen und 2795 Bundesrechtsverordnungen mit 42.590 Paragrafen. Hinzu kommen die Gesetze und Rechtsverordnungen der 16 Bundesländer sowie Zehntausende Rechtsakte der EU. Und es geht munter weiter.

Folgen: Steuerberater blicken im Dschungel des Steuerrechts nicht mehr durch. Unternehmen, Handwerker und Freiberufler stöhnen unter staatlichen Dokumentationspflichten. Meist sind nicht die Regeln an sich das Problem, sondern der Perfektionismus ihrer Fortschreibung. Aus Regulierungssucht und dem Diktat von Einzelfall-Gerechtigkeit wird insgesamt ein Übergriff auf die Freiheit. Mag sein, dass sich die Anwälte darüber freuen – die Gerichte sicher nicht.

Viel Arbeit, wenig Zeit

Erst recht formiert sich Volkszorn, wenn ehrgeizige Projekte von Staats wegen mit ebenso ehrgeizigen Fristen versehen werden. Meist sind diese Fristen die Folge längerer Untätigkeit der Politik, wie das zuletzt beim äußerst ärgerlichen Thema Grundsteuer zu sehen war. Mit der Nummer, Immobilienbesitzer mühsam und digital Daten sammeln zu lassen, über die Behörden analog längst verfügen, hat die Übergriffigkeit des Staates zuletzt eine neue Dimension erreicht. Natürlich waren die Fristen in der Praxis nicht zu halten.

Aufreger-Thema Grundsteuer: Behörden lassen Bürger Daten sammeln, die längst vorliegen – und gibt ihnen dafür auch noch wenig Zeit.
Aufreger-Thema Grundsteuer: Behörden lassen Bürger Daten sammeln, die längst vorliegen – und gibt ihnen dafür auch noch wenig Zeit. | Bild: Jens Büttner/dpa

Wenn das Unausgegorene, Überstürzte der Politik die Entscheidungen diktiert, sind oft Verunsicherung und Protest die Folge. Bei der von der Klimapolitik getriebenen wärmetechnischen Transformation von Gebäuden oder der Mobilitätswende ist die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns bei unrealistischen Fristen hoch. Hier kollidiert ein absolutes Argument der Politik, der Kampf gegen den Klimawandel, mit den praktischen Möglichkeiten der Bürger.

So entsteht das Bild eines Staates, der keine Rücksicht auf die Umsetzbarkeit seiner Vorgaben nimmt. Verbote und kurze Fristen, garniert mit Untergangsrhetorik, geben dann selbst dem prinzipiell Akzeptierten bei der Konkretisierung den Anstrich eines Übergriffs.

Das könnte Sie auch interessieren

Natürlich landet auch dieses Thema beim Geld. Auch die Frage, wieviel ein Staat seinen Bürgern wegnehmen darf und welche Lasten er ihnen aufbürdet, entscheidet sich zwischen kollektivistischer Staatsgläubigkeit und liberaler Staatsferne. Den Maßstab bildet immer das Kriterium der Verhältnismäßigkeit, auch beim (Über-)Griff des Staates in die Taschen der Bürger und die Kassen der Unternehmen.

Aber was ist verhältnismäßig? Vom Verfassungsrechtler Paul Kirchhof stammt die sogenannte Halbteilungsthese, der zufolge der Staat den Bürgern nicht mehr als die Hälfte ihrer Einkommen durch Steuern und Abgaben entziehen dürfe. Juristen und Ökonomen sind sich da nicht einig, schon gar nicht die Politik.

Für das Chamäleon der staatlichen Übergriffigkeit bleibt am Ende nur die Wechselhaftigkeit seiner Erscheinung: So viel Staat wie nötig, so wenig Staat wie möglich. Wir sollten froh sein, dass in Deutschland darüber im Zweifel Gerichte entscheiden können. Und die Wähler.