Von den 26 Gesichtsmuskeln des Menschen sind im Wesentlichen acht für die Mimik verantwortlich, darunter der Augenbrauenheber, der Augenbrauenrunzler, der Oberlippenheber und der Mundwinkelherabzieher. Bei Jürgen Klopp arbeiten sie allesamt im Akkord, als er am Montag die Ausgangslage vor dem Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gegen den FC Bayern (21.00 Uhr/Sky) beschreibt. Details zur Aufstellung verrät er freilich nicht, bei entsprechenden Fragen hat vielmehr der Augenbrauenrunzler seinen Einsatz. Aber je länger die Pressekonferenz andauert, desto mehr sind alle Muskeln gefordert, die einem ein Lächeln ins Gesicht setzen. Vorfreude! Pure Vorfreude!

„Es wird großartig morgen Abend. Wir werden als emotionalster Club der Welt bezeichnet. Lasst uns das morgen zeigen. Lasst es uns gemeinsam genießen“, sagt Klopp. Genießen? Ein Champions-League-Spiel dieser Bedeutung? Bill Shankly hätte wahrscheinlich missbilligend den Kopf geschüttelt bei solchen Aussagen. Liverpools legendärer Trainer der 60er- und 70er-Jahre sagte einst: „Manche Leute halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!“
Shanklys Asche haben sie nach dessen Tod 1981 auf dem Stadionrasen verstreut und ihn als Statue vor dem Stadion verewigt. In Jürgen Klopp, der hier Jurgen ohne Pünktchen genannt wird, sehen die Fans an der Anfield Road einen ähnlichen Heilsbringer, der dem Club den Glanz vergangener Tage zurückbringen soll. In einem Wohngebiet im Norden der Hafenstadt haben sie Klopp zumindest schon einmal eine Häuserwand mit einem übergroßen Porträt gewidmet. Seitdem ist die Ecke Jordan Street/Jamaika Street eine der beliebtesten Attraktionen für Fans des FC Liverpool.
Klopp blendet Heldenverehrung aus
Klopp, geboren in Stuttgart, aufgewachsen in Freudenstadt im Schwarzwald, weiß das natürlich, aber vielleicht ist ihm solche Heldenverehrung unangenehm, vielleicht ist sie ihm einfach auch egal. Wie sehr er dieser Stadt seit seiner Ankunft vor gut drei Jahren verfallen sei, will ein Journalist wissen. Augenbrauenheber, -runzler und Oberlippenheber geraten wieder in Bewegung, ehe Klopp antwortet: „Wir sind zusammengewachsen. Ich bin nicht oft in der Stadt und weiß deswegen nicht, was sie über mich denken. Aber die Atmosphäre im Stadion ist großartig. Bisher ist die Geschichte eine gute, aber wir sind noch nicht fertig.“ Es klingt schon fast wie eine Drohung, wenn er weiter ausführt: „Unsere Zuschauer können uns wirklich von 100 Prozent auf 120, 130, 140, 150 Prozent pushen. Ich hätte vorher nicht gedacht, dass das möglich ist.“
Klopp ist anders als viele Trainer. So sehr und so oft der 51-Jährige an der Seitenlinie wie ein überdrehtes Aufziehmännchen wirkt, ist er mit seinem Charme doch ein Gegenentwurf zur stets zurückhaltenden Garde um Pep Guardiola & Co, die keinen Muskel verziehen würden, selbst wenn sie den besten Witz der Welt erzählt bekämen. Seine Art kommt an in England, wo er sich bei seinem Amtsantritt im Oktober 2015 als „the normal one“ vorstellte, in Abgrenzung zu José Mourinho, der sich selbst als „special one“ tituliert hatte. Angeblich ist ihm der Vergleich damals spontan eingefallen, auf jeden Fall hat er die Herzen in der Arbeiterstadt so per Handstreich erobert, die früher vom Schiffsbau und bis heute von den Beatles geprägt wird.
Die Sache mit dem Meistertitel
Und natürlich vom FC Liverpool, der seit 29 Jahren vergeblich dem 19. Meistertitel in der Premier League hinterherjagt. Dieses Jahr soll es endlich klappen, Liverpool liefert sich mit Manchester City einen spannenden Zweikampf an der Spitze. Bei aller Vorfreude auf die beiden Duelle mit den Bayern, die Champions League ist für die Fans daher zweitrangig. In den kommenden Tagen stehen im nationalen Wettbewerb Duelle mit Manchester United an, Anfang März kommt es außerdem zum Derby mit dem FC Everton, Liverpools zweitem Club in der Premier League.
Entsprechende Nachfragen der englischen Journalisten bringen den Mundwinkelherabzieher gleich in Wallung. „Spiel nach Spiel“ gelte es zu nehmen, so Klopp. Und das nächste Spiel ist eben das Duell mit den Münchnern. Die seien keine Laufkundschaft, wenngleich viele Experten Liverpool in der Favoritenrolle sehen. „Wenn man sagt, sie sind in einer schlechten Situation, ist das Jammern auf hohem Niveau“, so Klopp. „Die Situation macht sie noch gefährlicher. Sie sind eine größere Bedrohung als zuvor. In der Königsklasse sind sie zudem historisch immer stark.“
Noch Fragen? Wieder der Augenbrauenheber, dann ein Grinsen. Vorfreude! Pure Vorfreude!
Die Bayern im Hotel „Titanic“
Abergläubisch sind sie nicht beim FC Bayern. Oder besitzen sie sogar britischen Humor? „Titanic“ heißt die am Mersey River gelegene Luxusherberge, in der die Bayern ohne den erkrankten Jérôme Boateng und den wegen Vaterfreuden nachreisenden Franck Ribéry am Montag einziehen. Einen Fußball-Untergang – wie Borussia Dortmund ihn beim 0:3 gegen Tottenham erlebte – wollen die Münchner in Liverpool nicht erleben. „Ein Unentschieden wäre wunderbar“, sagt Präsident Uli Hoeneß zu seinem Wunschergebnis. An Bord des Teamfliegers befand sich auch Kingsley Coman. „Es ist ein bisschen besser geworden“, lässt Sportdirektor Hasan Salihamidzic über Comans schmerzenden linken Fuß wissen.
Was auf die Bayern vor über 50 000 Zuschauern zukommt, weiß Mats Hummels nur zu gut. „Ich habe da schon mal gespielt – leider“, erinnert er an das 3:4 mit Borussia Dortmund im Viertelfinale der Europa League 2016. „This is Anfield“ steht über der Treppe, die hinunter führt zur roten Türe, durch die es hinaus geht in die Hölle. „Eine unfassbare Stimmung hat geherrscht“, sagt Hummels, „wir waren 3:1 vorne, hatten das Spiel gefühlt im Sack. Die Fans haben das Team nach vorne gepeitscht. Man muss 90 Minuten dagegenhalten, sonst kann man untergehen.“ Ein Schiffbruch à la Titanic halt.
Die Teams
FC Liverpool: Alisson – Alexander-
Arnold, Matip, Fabinho, Robertson – Wijnaldum, Henderson, Milner – Salah, Roberto Firmino, Mané
FC Bayern München: Neuer – Kimmich, Süle, Hummels, Alaba – Martínez – Thiago, Goretzka – Gnabry, Lewandowski, James
Schiedsrichter: Rocchi (Italien)
FC Bayern zweimal 0:0 in Liverpool
An der Anfield Road gab es noch keinen deutschen Sieg. Borussia Dortmund führte 2016 im Viertelfinale der Europa League mit 3:1, verlor aber noch 3:4 und schied aus. Der FC Bayern aber hat dort noch nie verloren! Zweimal hieß es 0:0.Im Europacup der Pokalsieger 1971 endete das Rückspiel 3:1, die Münchner kamen weiter. 1981 ging das Rückspiel im Landesmeistercup 1:1 aus, Liverpool reichte das Auswärtstor. Auch der 1. FC Köln schaffte 1965 im Landesmeister-Viertelfinale ein 0:0, nach dem 0:0 in Köln und dem 2:2 im dritten Spiel in Rotterdam schied Köln durch Losentscheid aus.