In den Tagen vor seinem Tod im Herbst 1981 soll Bill Shankly immer wieder die gleiche Schallplatte aufgelegt, immer wieder das gleiche Lied gehört haben. Vielleicht, weil es die Melodie seines Lebens war, weil so viele Erinnerungen damit verknüpft waren, wahrscheinlich aber auch, weil er daraus Kraft schöpfte für seine letzten Tage und Stunden. „You’ll never walk alone“, heißt der Song, „Du wirst niemals alleine gehen“.

Liverpools legendärer Trainer Bill Shankly (links) diskutiert 1971 im Achtelfinal-Rückspiel des damaligen Europapokals der Pokalsieger ...
Liverpools legendärer Trainer Bill Shankly (links) diskutiert 1971 im Achtelfinal-Rückspiel des damaligen Europapokals der Pokalsieger mit Münchens Sepp Maier. Die Bayern gewannen die Partie übrigens mit 3:1. | Bild: Josef Zeitler/Witters

Wenige Tage nach Shanklys Tod, der den FC Liverpool in den 60er- und 70er-Jahren als Trainer zu einem Spitzenteam geformt hatte, wurde seine Asche im Stadion an der Anfield Road verstreut. Direkt vor „The Kop“, der legendären Tribüne, wo sie auch am Dienstagabend wieder dieses Lied singen werden, wenn das Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gegen den FC Bayern (21.00 Uhr) ansteht, diese unvergleichbare Hymne, die für Jubelgesänge taugt – und auch für Beerdigungen.

Die Liverpool-Hymne: You'll never walk alone

Der Song von Gerry & The Pacemakers aus dem Jahr 1963 wird heute bei vielen Clubs gesungen, in Dortmund, aber auch in Glasgow. Aber angeblich nirgends so inbrünstig wie in Liverpool.


Sportredakteur Dirk Salzmann kurz vor dem Abflug.
Sportredakteur Dirk Salzmann kurz vor dem Abflug. | Bild: Salzmann, Dirk

Wenn man will, reise ich also zu einem Friedhof. Auf jeden Fall zu einer der Kathedralen des Fußballs. Das Camp Nou in Barcelona beindruckt durch seine Größe, im Giuseppe-Meazza-Stadion von Mailand scheint Jürgen Klinsmann noch immer den Holländern bei der WM 1990 davonzulaufen und die Atmosphäre in den Stadien von Glasgow macht einen sprachlos, weil die Fans schon einen gewonnenen Zweikampf an der Mittellinie feiern wie einen Europapokaltriumph. Aber Liverpool, die Stimmung im Stadion an der Anfield Road, soll das alles überbieten.

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Die Technik versagte

Nicht nur wegen „You‘ll never walk alone“, das angeblich nur deshalb zur Vereinshymne wurde, weil die Stadionanlage einst streikte. In den 60er-Jahren wurden vor den Spielen noch Gassenhauer intoniert, um die Stimmung anzuheizen. Und als die Technik versagte, fehlten eben noch das Meiste des damaligen Nummer-1-Hits der Liverpooler Band Gerry and the Pacemakers, der davon erzählte, dass ein viel zu früh verstorbener Vater für einen Tag auf die Erde zurückkommen durfte, um seine Tochter zu trösten.

Wie es zu „You’ll never walk alone“ kam

Die Fans machten das Beste aus der Panne und sangen den Song einfach selbst. Der Beginn einer Tradition. „Man muss schon ein Kühlschrank sein, um da keine Gänsehaut zu bekommen“, sagt Dietmar Hamann, der zwischen 1999 und 2006 für den Club aus der Arbeiterstadt in Englands Westen spielte. Das Lied wird heute bei vielen Clubs gesungen, in Dortmund, aber auch in Glasgow. Aber angeblich nirgends so inbrünstig wie in Liverpool, wo ein Schild in den Katakomben von den eigenen Spielern wie ein guter Freund abgeklatscht wird, bevor es auf den Rasen geht, während mancher Gegner versucht, das Fracksausen zu überspielen. „This is Anfield“, „das ist Anfield“ steht darauf. Hier gelten andere Regeln als sonstwo im Empire – ach was, als im Rest der Welt.

This is Anfield: Wo mancher Gegner Fracksausen bekommt

Aber was macht einen Verein eigentlich zu etwas Besonderem, abgesehen von einigen Versen und einer eindringlichen Melodie? Erfolge natürlich. Der FC Liverpool ist mit 18 Meisterschaften in England und fünf Triumphen im Pokal der Landesmeister beziehungsweise der Champions League und vielen weiteren Titeln einer der erfolgreichsten Vereine der Welt. Selbst wer wie ich zu jung ist, als dass er den Großteil davon live hätte miterleben können, der sah doch dank des Zutuns der „Reds“ einige der größten Spiele der vergangenen Jahre.

Etwa das Champions-League-Finale 2005 in Istanbul, als die Engländer gegen den AC Mailand zur Hälfte bereits mit 0:3 zurücklagen, nach der Pause schnell ausglichen und im Elfmeterschießen gewannen.

Angeblich wettete damals ein Liverpool-Fan in der Halbzeit exakt dieses Ergebnis – und hatte damit finanziell vorerst ausgesorgt. Bill Shankly hätte das wohl gefallen, denn Aufgeben war niemals eine Option. Er selbst sagte einst: „Manche Leute halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, es ist viel ernster!“ Ist es das wirklich? Mehr als ein Spiel?

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In Liverpool hat der Fußball einen Stellenwert wie in Deutschland wohl nur im Ruhrgebiet, wo vergangene Woche das Vereinslied „Blau und Weiß, wie lieb' ich Dich“ sogar bei der Trauerfeier von Rudi Assauer gesungen wurde.

Tatsächlich kommt der FC Schalke – zumindest in meiner Wahrnehmung – den „Reds“ in Deutschland wohl am nächsten. Nicht, dass man beide Vereine, was ihre Erfolge anbelangt, miteinander vergleichen könnte. Liverpools Trophäen füllen ein Museum, Schalke genügt im Vergleich dazu eine kleine Nischenvitrine. Aber beiden Clubs ist die Hingabe gemein, der Wille, es als (usprünglich) wirtschaftlicher Außenseiter den größeren Städten und Clubs zeigen zu wollen. Und zu beiden gehört auch das Scheitern dazu, die Tragödie. Im Fall des FC Liverpool sogar die Katastrophe.

Stuttgart, Flughafen. Liverpool rückt näher. Wenig später ist mein Ryanair-Flieger mit mir auf Platz 6a in der Luft.

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Abflug nach Liverpool Video: Salzmann, Dirk

Alles normal, man verreist. Kommt wieder zurück. Oder auch nicht. Wie leider 39 Menschen, die sich am 29. Mai 1985 in Brüssel das Endspiel im Europapokal der Landesmeister zwischen dem FC Liverpool und Juventus Turin anschauen wollten. Den ganzen Tag über lieferten sich italienische und englische Hooligans Scharmützel in der Stadt, abends im maroden Heysel-Stadion kam es dann zur Katastrophe. Liverpool-Anhänger stürmten einen neutralen Sektor, worauf Panik ausbrach, eine Wand einstürzte und Menschen unter sich begrub.

Eine dunkle Zeit in der Geschichte des Vereins

454 Verletzte, 39 Tote – so lautete die verheerende Bilanz. 32 Tote waren Italiener, außerdem starben vier Belgier, zwei Franzosen und ein Nordire. Von am Ende 26 an Belgien ausgelieferte Hooligans wurden 14 zu Haftstrafen bis zu drei Jahren verurteilt. Belgien zahlte den Hinterbliebenen umgerechnet rund 1,25 Millionen Euro Entschädigung. Alle englischen Fußballklubs wurden von der Uefa für zunächst unbestimmte Zeit von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen. Der Bann wurde für die meisten Vereine nach fünf Jahren aufgehoben, der FC Liverpool kehrte nach sechs Jahren in die internationalen Wettbewerbe zurück. Auch Juventus Turin und der belgische Fußballverband wurden mit Strafen belegt.

Nicht ganz vier Jahre später traf es dann den FC Liverpool und seine Fans ganz hart. Am 15. April 1989 kehrten 96 Väter, Mütter, Kinder, Brüder, Schwestern nicht nach Hause. Sie starben im Hillsborough-Stadion in Sheffield, wo sie ihren Klub spielen sehen wollten. Erdrückt, zerquetscht, erstickt, weil die Polizei immer mehr Zuschauer in einen bereits überfüllt Block trieb, wie Vieh durch ein Gatter.

Ein Mahnmal vor dem Stadion erinnert an die Tragödie, auch heute werden die Fans dort wieder Blumen ablegen. Die Katastrophe wurde lange Zeit nicht aufgeklärt, weshalb neben „You’ll never walk alone“ andere Zeilen an der Anfield Road gesungen oder vielmehr empört herausgeschrien wurden. „Justice vor the 96“.

Das größte Sportunglück Großbritanniens hatte Konsequenzen für das gesamte Land. Die Stadien wurden modernisiert, die Stehplätze wurden in den neuen Arenen abgeschafft. Fußball ist längst ein streng durchchoreographiertes Ereignis, auch beim FC Liverpool, der inzwischen einem US-Investor gehört, und wo 54 000 Zuschauer im Stadion Platz haben. Weil da enger gestuhlt ist als in meinem Billigflieger, der in Manchester landet, von wo aus die Reise knapp anderthalb Stunden per Zug weiter an den Zielort geht.

Kaum Beinfreiheit im Flieger – und angeblich auch beim FC Liverpool.
Kaum Beinfreiheit im Flieger – und angeblich auch beim FC Liverpool. | Bild: Salzmann, Dirk

Vorbei die Zeiten, als alles noch improvisiert war. Als an der Anfield Road angeblich sogar der Fangesang erfunden wurde. An einem Septembersamstag im Jahr 1967, so will es die Legende, war der Nebel angeblich so dick, dass die Fans das gegnerische Tor nicht sahen. Als Unruhe im Stadion aufkam, als angeblich ein Tor erzielt wurde, schrien die Fans auf „The Kop“ angeblich zu Zehntausenden: „Who scored the goal, who scored the goal?“ Der Nebel rief zurück: „Hateley scored the goal, Hateley scored the goal.“

Jürgen Klopp ist der Liebling der Fans

Mark Hateley gehört zu Liverpools Vereinslegenden. Eines Tages wird wohl auch der heutige Starstürmer Mo Salah dazugehören, wahrscheinlich auch Jürgen Klopp, der die „Reds“ seit 2015 trainiert, dem die großen Titel bislang aber verwehrt blieben.

Ein Porträt von Jürgen Klopp ziert eine Hauswand in Liverpool.
Ein Porträt von Jürgen Klopp ziert eine Hauswand in Liverpool. | Bild: Lars Reinefeld/dpa

Ob das so bleiben wird? Auch nach dem Spiel gegen die Bayern? Und wird die Atmosphäre, wird „The Kop“ so sein, wie ich es mir vorstelle, wie es im Fernsehen scheint?

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Dirk Salzmann vor dem Stadion Video: Salzmann, Dirk

Ich werde von der Pressekonferenz des Liverpool FC und der Bayern berichten, vom Achtelfinal-Hinspiel am Dienstag an der Anfield Road, das für beide Mannschaften den weiteren Saisonverlauf bestimmen wird. Und natürlich von „You’ll never walk alone“. In diesem Sinne: Kommen Sie mit – übrigens laut Wettervorhersage britisch-untypisch ohne Sturm und Regen.