Wenn Spaniens Fußball-Verband (RFEF) nur einen Funken von Anstand und Ehrgefühl besitzt, dann müsste eine außerordentliche Generalversammlung am Freitag eine Zäsur bringen und den Verbandschef Luis Rubiales von allen Aufgaben entbinden. Denn: Die Indizien sind erdrückend, dass der Mann die ständige Grenzüberschreitung gegenüber Frauen in seinen Arbeitsalltag implantiert hat. Die „Kuss-Affäre“ – Rubiales hatte Weltmeisterin Jennifer Hermoso bei der Siegerehrung nach dem Finale in Sydney mit beiden Händen an den Kopf gefasst, um ihr einen Kuss aufzudrücken – verlangt nach Konsequenzen, nach denen nun auch die internationalen Spielergewerkschaft Fifpro und die Spielerinnengewerkschaft Futpro rufen.
Hält der Männerbund zusammen?
Ein besonderer Moment der spanischen Spielerinnen vor einem weltweiten Fernsehpublikum sei durch das unangemessene Verhalten „beschmutzt“ worden, schrieb die Fifpro, die einen Untersuchung „gemäß dem Fifa-Ethikkodex“ verlangte. Auch von der betroffenen Spielerin gibt es nun ein Statement: „Meine Gewerkschaft FutPro kümmert sich in Abstimmung mit meiner Agentur TMJ um die Verteidigung meiner Interessen.“ Es gehe jetzt um „beispielhafte Maßnahmen“, solche Verhandlungen dürften „niemals ungestraft bleiben“, hieß es in dem Kommuniqué. Dass sich die inzwischen in Mexiko spielende 33-Jährige auf die Seite der Rubiales-Kritiker stellt, ist die entscheidende Wendung in der Causa.
Der affärenumtoste RFEF-Boss, der 675 000 Euro Jahresgehalt bekommen soll, erledigte seine Amtsgeschäfte im Gutsherrenstil mit Billigung der vom ihm profitierenden Regionalfürsten. Deshalb wird auch nicht erwartet, dass es am heutigen Freitag zum Rücktritt kommt. Im Gegenteil: Könnte gut sein, dass der Männerbund erstmal wieder zusammenhält. Gleichwohl ist der weltweite Image- und der politische Flurschaden immens. Die Verteidigungslinie des 46-Jährigen mitsamt einer halbgaren Entschuldigung ist zusammengebrochen, nachdem die Weltmeisterin der Darstellung widersprochen hat, der Kuss habe „auf Gegenseitigkeit“ beruht. Hermoso soll noch beim Rückflug über Doha von Nationaltrainer Jorge Vilda vergeblich bekniet worden sein, dem Verbandschef beizustehen, der im Siegesrausch sogar davon fabulierte, sie auf Ibiza zu heiraten.
Fragen nach der Farbe der Unterwäsche
Bereits am Dienstag hatte Ministerpräsident Pedro Sanchez den Daumen beim Fußballboss gesenkt, als der Politiker nach dem Empfang am Regierungspalast von einer „inakzeptablen Geste“ sprach. Und von einem traurigen Beleg, dass es noch ein langer Weg „bis zur Gleichheit und Respekt zwischen Männern und Frauen“ sei. Danach bestätigte die oberste spanische Sportbehörde, dass vier Anzeigen gegen Rubiales eingegangen sind, um ihm die Befähigung zu entziehen, den Sportverband mit der größten Strahlkraft zu führen. Mit Tamara Ramos meldete sich die frühere Marketing-Leiterin einer weiteren Spielergewerkschaft AFE, aus der Rubiales überhaupt vor fünf Jahren auf den RFEF-Thron rückte. Sie sei mehrfach mit sexistischen Bemerkungen bedacht worden – unter anderem habe sie Fragen nach der Farbe ihrer Unterwäsche beantworten sollen.
Gerüchte um Escort-Damen
Passt irgendwie zu einem Obermacho, der sich im Australia Stadium nach dem Finale gegen England (1:0) auf der Ehrentribüne nur wenige Meter neben der spanischen Königin Letizia an die Genitalien griff. In einem weiteren Skandal ist übrigens von Leistungen sogenannter Escort-Damen die Rede, die angeblich auf Verbandskosten abgerechnet werden sollten. Eigentlich ist ein unterdurchschnittlich talentierter Linksverteidiger, der unter dem deutschen Trainer Bernd Schuster bei Deportivo Xerez und UD Levante spielte, seit längerem ein untragbarer Repräsentant des spanischen Fußballs, dessen spielerischer Ansatz allein so vorbildhaft sein könnte.
Missbrauchte Machtpositionen
Der Vorfall steht exemplarisch für die immer wieder von Funktionären oder Trainern missbrauchte Machtposition, die bei zwei WM-Neulingen besonders krass die erste Teilnahme trübten. Sambias Nationaltrainer Bruce Mwape wird genau wie Haitis Verbandschef Yves Jean-Bart seit längerem angelastet, Nationalspielerinnen zu Sex gezwungen zu haben. Während des Turniers errichteten beide Verbände dazu eine Mauer des Schweigens. In Deutschland soll es früher zumindest unsittliche Berührungen gegeben habe, wie Britta Carlson, die Co-Trainerin der deutschen Fußballerinnen, im ersten Teil der Doku „Born for this“ erzählte: „Es gab Funktionäre, die dich mal in den Arm genommen und betatscht haben – was ein No go ist.“ Die 45-Jährige hatte zwischen 2003 und 2007 insgesamt 31 Länderspiele bestritten. Weiter vertieft wurde ihre Andeutung vor einem Jahr später weder von den Filmemachern noch vom Deutschen Fußball-Bund.