Wenn Gelassenheit eine Person sein könnte, dann wäre sie womöglich Christian Günter. Am Donnerstagabend (18.45/RTL+) kickt der SC Freiburg im Olympiastadion von London gegen West Ham United um den Einzug ins Viertelfinale der Europa League, doch der SC-Kapitän hat keine Furcht. „Wir spüren keine Nervosität. Und wir haben nach unserem 1:0-Sieg im Hinspiel die bessere Ausgangsposition“, sagt Günter und fügt an: „Wir haben es viel besser gemacht als in den Gruppenspielen, es war beim 1:0 vor einer Woche eine enorme Steigerung.“
Die Zuversicht in Person
Christian Günter selbst war in den Gruppenspielen nach seiner langen Pause wegen einer komplizierten Armverletzung noch nicht dabei. Das 1:0 durch Michael Gregoritsch vor einer Woche bereitete er aber zusammen mit Roland Sallai vor. Nach seinem Bundesligator gegen Bayern München sechs Tage davor ein zweiter Höhepunkt nach der Rückkehr.
Wenn Zuversicht eine Person sein könnte, dann wäre sie vielleicht Christian Günter. „Ein Achtelfinale in der Europa League ist für mich, die Mannschaft und den Verein etwas ganz Besonderes“, sagt er und spricht von Mut, mit dem man dem Premier-League-Siebten begegnen werde. Der 2:1-Sieg beim VfL Bochum, der erste Bundesligasieg nach zuletzt sechs sieglosen Partien, hat das Adrenalin in Wallung gebracht. Bochum sei zwar nicht London, der VfL nicht West Ham, aber wer im Ruhrpott „ein ekliges Spiel bei einem heimstarken Gegner“ gewinne, der nehme schon eine Extra-Portion Selbstbewusstsein mit über den Ärmelkanal.
Wenn Glück eine Person sein könnte, dann wäre es bestimmt Christian Günter. Wenn er heute in London sein Team aufs Feld führt, wenn er mit West-Ham-Spielführer Kurt Zouma und dem italienischen Unparteiischen Marco Guida die Hände schüttelt, dann empfindet er das als „sehr spezielles Gefühl“. Zum einen wegen der Rückkehr nach der langen Pause. Zum anderen, „weil der SC mein Herzensverein ist“.
Stolz auf die Kapitänsbinde
Er habe als Bub viele Kapitäne erlebt und jetzt ist er derjenige, „einfach toll“. Glück ist Christian Günter, so aberwitzig es sich anhören mag, auch durch seinen zweiten Armbruch widerfahren. Nur so wurde die bakterielle Entzündung erkannt, die mehrere Operationen notwendig machte, in einer davon wurde ihm ein Stück Knochen aus dem Arm entfernt und ein Stück Knochen aus dem Bein eingesetzt. „Es war schwierig, wenn du nicht weißt, wohin die Reise geht“, sagt Günter. Nie wieder Fußball? Es hätte noch schlimmer ausgehen können.
Eine Odyssee hinter sich
Wenn Kampfgeist eine Person sein könnte, dann wäre er wahrscheinlich Christian Günter. Auf dem Rasen ja immer. Im Krankenbett und in der Reha mit eisernem Willen, über Infusionen, Tabletten und Laufen mit dem Rollator, über Krankengymnastik, Muskelaufbau hin zu ersten Läufen, viel später mit Steigerungsläufen bis hin zum Wiedersehen mit den Kollegen im Mannschaftstraining. Doch nützt der größte Kampfgeist nichts ohne Beistand.
Die Familie als Beistand
„Meine Frau, meine Familie, mein bester Freund, Trainer Christian Streich“, zählt Günter auf, „ohne deren Unterstützung wäre es nicht gegangen.“ Eine Odyssee der Ungewissheit, aber die Günters kennen das ja. 2015 war Ehefrau Katrin, damals noch die Freundin, an Lymphknotenkrebs erkrankt. Christian ließ sich als Zeichen der Verbundenheit die Haare abrasieren, beide zeigten sich lächelnd mit Glatzen. Katrin besiegte den Krebs, die beiden heirateten und haben kürzlich die zweite Tochter bekommen. Wunderbar, aber der SC-Kapitän kann da trotz Freude ernst werden: „Das alles erdet dich auch“, sagt er, „und, ja, man wächst.“
Wenn Optimismus eine Person sein könnte, dann wäre er sicher Christian Günter. Schmerzt es, die Heim-EM zu verpassen? Er holt Luft, dann geht‘s ab. „Es sind noch viele Spiele, ich muss ans Maximum kommen und das liegt in meiner Hand“, sagt Günter. Nein, er hat die EM noch nicht abgeschrieben. „Die Verletzungspause hat meine Chancen natürlich nicht erhöht“, ein Lachen unterbricht sein Statement, „aber mein Vorteil ist, dass ich dann noch frisch bin, während andere über 50 Spiele in den Beinen haben.“ Ob‘s Herr Nagelsmann registriert, dass da in Freiburg einer noch nicht aufgegeben hat auf der von Konkurrenten kaum optimal besetzten Position? Und wenn nicht? „Dann wird die Familie den Urlaub genießen und die Akkus aufladen.“
Freundlich, aber heute nicht
Wenn Freundlichkeit eine Person sein könnte, dann wäre sie vermutlich Christian Günter. Allerdings nicht heute Abend in London gegen West Ham. „Wir können ins Viertelfinale kommen“, sagt er, „und dafür werden wir alles, wirklich alles geben. Wir sind nämlich auf einem richtig guten Weg inzwischen.“ Um 18.45 Uhr wird angepfiffen.