Natürlich hat Oliver Bierhoff erst einmal recht, wenn er sich als Verantwortlicher der Nationalmannschaft diesmal nicht auf der Anklagebank sieht. Anders als nach dem WM-Desaster 2018 ist das EM-Achtelfinalaus nicht mit einem kolossalen Imageverlust verbunden, aber Regenbogenaktionen und Niederknien können nicht verdecken, dass sportlich keine Besserung eingetreten ist. Im Hauptbetätigungsfeld, dem Fußballspiel, geht der Anschluss verloren. „Unser Anspruch ist es, zu den Besten zu gehören“, hat Bierhoff einleitend auf der Abschlusspressekonferenz in Herzogenaurach gesagt. Dass der deutsche Fußball in Wahrheit längst noch viel weiter von der Weltspitze weg ist, als viele glauben, darüber wird beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) immerhin ganz offen gesprochen.

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Die Stagnation auf einem Niveau, das in einer Liga das gehobene Mittelfeld wäre, ist nicht mehr von der Hand zu weisen. Für die Spitze mangelt es erkennbar an Konstanz, ob bei einer WM oder EM, führte Bierhoff in seiner Argumentation aus: Dem Kraftakt 2018 gegen Schweden folgte die Blamage gegen Südkorea, der Gala gegen Portugal 2021 die Fast-Blamage gegen Ungarn. Die Ursachenforschung leitet über zur Qualität der Einzelspieler, in denen vielleicht noch besonders viel Potenzial schlummert. Wer den Kader aber nach Hoffnungsträgern durchforstet, die bei der EM 2024 zwischen Hamburg und München, Dortmund und Leipzig endlich wieder Begeisterung in Fußball-Deutschland wecken, stößt auf erschreckende Leerstellen.

Talente sind Mangelware

Der DFB-Direktor hat kürzlich vorgerechnet, dass die Niederlande sieben Spieler im Kader hatten, die noch bei der U21-EM hätten auflaufen können, die Engländer sogar acht. Bei Deutschland wäre es allein Kai Havertz, 22, gewesen. Jamal Musiala, 18, hatte schon für Englands U21 gespielt. Auch wenn Florian Witz, 18, noch hinzugerechnet werden muss, gestand der 53-Jährige: „Wir schauen darauf mit Besorgnis.“ Er sieht eine „Aufgabe des gesamten deutschen Fußballs“ – und will schon bei den Kleinsten mit neuen Spielformen gegensteuern.

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Bierhoff findet es verstörend, dass zwar das U21-Nationalteam vor vier Jahren gefeierter Europameister wurde, aber allein Serge Gnabry den Sprung ins A-Team schaffte, der nun auch nur EM-Mitläufer statt Leistungsträger war. Und die Mängelliste setzt sich ja fort: „Von den U21-Finalteilnehmern aus 2019 standen lediglich Lukas Klostermann, Florian Neuhaus und Robin Koch im EM-Aufgebot. Damit können wir nicht zufrieden sein.“ Ergo: „Wir müssen jungen Spielern die Möglichkeit geben, Erfahrungen zu sammeln.“

Was ist mit Julian Draxler und Julian Brandt

Auch Joachim Löw glaubt ja: „Wir haben eine Reihe junger Spieler, die in den nächsten zwei, drei Jahren noch mal einen großen Schritt nach vorne machen werden.“ Klar, Joshua Kimmich und Leon Goretzka können die meinungsfreudigen Anführer einer verjüngten Mannschaft werden, aber der eine braucht dafür eine zentrale Rolle, der andere einen gesunden Körper. Manch Verantwortlicher fragt sich auch, warum die nach dem Gewinn des Confed-Cups 2017 als große Hoffnungsträger gehandelten Techniker Julian Draxler und Julian Brandt so nachließen, dass sie es nicht einmal zur EM schafften. Alles in allem viel Arbeit für den künftigen Bundestrainer Hansi Flick.

Flick benötigt keine Einarbeitungszeit

Das Gute ist erst einmal, dass der Löw-Erbe keinerlei Einarbeitungszeit benötigt. Joti Chatzialexiou (Sportlicher Leiter), Tobias Haupt (Akademieleiter) oder Meikel Schönweitz (Cheftrainer U-Nationalmannschaften) kennen und schätzen den 56-Jährigen, der beim FC Bayern erkennbar an Profil gewonnen hat.

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Doch zu klären ist einiges, wenn er Anfang September die Nationalmannschaft zu den nächsten WM-Qualifikationsspielen, beginnend mit einem Ausflug nach Liechtenstein, versammelt. Danach warten Armenien und Island. Aber: Löw hat Flick ja noch dieses 1:2 gegen Nordmazedonien übergeben, weitere Ausrutscher sind auf dem Weg zur WM 2022 verboten. Es sei denn, Deutschland will das Katar-Turnier über den Qualifikationsweg boykottieren.