Es blubbert. Aber es ist kein Motor, sondern Sauerstoff. Michael Schumacher schwebt ins Bild, dreht seine Kreise. Nicht auf der Rennstrecke, sondern tauchend in tiefblauer See. Schon die erste Sequenz zeigt, dass das hier mehr ist als eine herkömmliche Sportlerdokumentation.

Nach der Schwerelosigkeit meldet sich seine Stimme aus dem Off, vernommen in tausenden von Interviews. Auch sie wirkt jetzt losgelöst, beinahe seltsam, eindrücklicher denn je. Seit beinahe acht Jahren, seit dem fatalen Skiunfall in den französischen Alpen und seiner schweren Kopfverletzung ist Michael Schumacher nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetaucht. Vom 15. September an läuft ein abendfüllender Film auf Netflix: „Schumacher“. Der Titel kommt mit dem Nachnamen aus, steht er doch für den Rekordweltmeister. Die 112 Filmminuten aber zeigen vor allem den Michael, den Menschen Schumacher.
Nah an der Familie
„Ich habe nie dem lieben Gott einen Vorwurf gemacht, warum das passiert ist. Es war einfach richtig Pech. Mehr Pech kann man im Leben nicht haben“, sagt Corinna Schumacher über den Schicksalstag nach der Formel 1-Karriere. Noch am Morgen des Unglückstags hatte ihr Mann vorgeschlagen: „Der Schnee ist nicht optimal, wir könnten ja nach Dubai fliegen.“
Erstmals haben die Familie und das Management, die den Rekonvaleszenten zu seinem Wohl gegen jeden öffentlichen Druck abschirmen, drei deutsche Filmemacher ganz nah herangelassen. Dieser Film soll ein Geschenk der Familie an ihren Michael sein.
Voyeure seien gewarnt, sie kommen nicht auf ihre Kosten. Niemand braucht ungeduldig vorspulen, aktuelle Bilder gibt es keine. Wohl aber neue aus vergangenen Zeiten. Chronologisch geordnet, nach den vielen Bestmarken des ersten deutschen Formel-1-Champions. Trotzdem ist es weder ein statischer noch ein statistischer Blick. Vielmehr ergibt das Puzzle aus Interviews, privaten Filmschnipseln und vielen Momentaufnahmen eine veränderte Wahrnehmung von Michael Schumacher.

Nach dem Unfalltod von Ayrton Senna 1994 in Imola ist Schumacher die neue Nummer Eins der Formel 1 und muss mit ungekannten Gefühlen kämpfen. Er habe viele Orte an den Rennstrecken plötzlich mit anderen Augen gesehen („Hier könntest Du sterben“), fragte sich, ob er überhaupt je wieder im Auto sitzen könne, fand nachts nur drei Stunden Schlaf ob der nagenden Frage: „Ist das alles richtig?“
„Ein Meister im Ausblenden“
Plötzlich erscheinen die vielen folgenden Jubelbilder in einem anderen Licht. Was so leicht aussah in dieser Ausnahmekarriere, war wohl nie wirklich einfach. Warum die Karriere dann doch noch Fahrt wie keine andere im Motorsport aufnahm, erzählt seine Frau Corinna: „Er war der Meister im Ausblenden. Ein extrem starker Mann, das zeigt er mir auch heute noch jeden Tag.“
Geplagt von Selbstzweifel
Die Gattin erscheint als die eigentliche Erzählerin der Geschichte, bleibt bei leichten und schweren Episoden so unprätentiös und gefühlvoll wie in der Erklärung, warum sie all die Jahre das rastlose Leben mitgemacht hat: „Damit er wusste, dass er nicht allein war.“
Die Entspannung, die in vielen privaten Bildern deutlich wird, reicht regelmäßig nur bis zum Saisonbeginn. Dann kehrt die bohrende Frage zurück: „Ich bin mal gespannt, ob ich schnell genug bin...“ Tatsächlich, dieser Überathlet, wird immer noch von Selbstzweifeln geplagt – und auch getrieben. „Es war ihm wichtig, dass das nie jemand merkt“, bestätigt Managerin Sabine Kehm.
Erst nach dem ersten Titelgewinn mit Ferrari verändert sich vieles. Schumacher hat das Gefühl, jetzt niemand mehr etwas zu schulden. Der Regisseur zeigt Bilder von Fallschirmsprüngen, was für eine passende Metapher. Aber was können knapp zwei Stunden noch Neues bringen über eine Karriere, die auserzählt scheint? Beispielsweise das, was ihm nach dem Bremsversagen und dem doppelten Beinbruch in Silverstone passiert ist. „Ich lieg‘ da und merke, wie ich mich wieder fange und beruhige und fühle, wie mein Herzschlag immer weniger wird und plötzlich auch komplett aufhört. Und dann denke ich, dass es wahrscheinlich so anfühlt, wenn Du auf dem Weg nach oben bist“, erinnert sich Schumacher an sein Nahtoderlebnis.

Seine Frau, an diesem Tag zuhause geblieben, hatte „nie im Leben daran gedacht“, dass ihm beim Rennfahren überhaupt etwas Ernsthaftes passiert sein könnte. Sie ahnt, dass dieser Glaube ein Schutzmechanismus war. Ohne dass es ausgesprochen wird, denkt der Zuschauer sofort an das, was dann nach der Karriere geschehen ist.
Die Zäsur, es bleiben noch elf Filmminuten, ist der Schwenk auf die französischen Alpen, wo das Unglück zur Jahreswende 2013/14 geschah. Jean Todt, früher Schumachers Chef, längst sein Freund, sagt innerlich bebend, über die Folgen des Skiunfalls: „Ein Vater, ein dermaßen starker Anführer mit so großer Persönlichkeit – das alles war von einer Minute auf die nächste vorbei.“ In diesen dramatischen Passagen zeigt sich wieder, dass der Film durchaus auch „Die Schumachers“ hätte heißen können.
Der Vater, der Held
Gattin Corinna übernimmt folgerichtig die Hauptrolle. Es ist auch ihre Geschichte, und sie hat das Bedürfnis, sie richtig zu erzählen. Die 52-Jährige spricht mit ungeheurer Stärke, selbst wenn ihr dabei Tränen in die Augen steigen. Die drei deutschen Filmemacher waren so erstaunt wie angetan über den Zugang, den die Familie ihnen gewährte. „Sie hatte die Größe, uns machen zu lassen. Michael so zu zeigen, wie er ist, mit allen Höhen und Tiefen“, sagt Produzentin Vanessa Nöcker. Die Filmer verzichten auf Pathos, sie tasten sich heran, fragen immer wieder nach.

Mick Schumacher, seit diesem Jahr selbst Formel-1-Pilot, hat sich im Kopf die Bilder der Freude bewahrt. Sein Vater, das ist sein Held. Vor der Kamera gibt er ehrlich zu, was ihm so sehr fehlt: „Nach dem Unfall ist es so, dass die Momente, die viele mit ihren Eltern erleben, nicht da sind. Oder weniger. Das finde ich, ist ein bisschen unfair.“ Er glaube, dass sie sich auf eine andere Weise verstehen würden, weil sie die gleiche Sprache des Motorsports sprechen könnten: „Das wäre so cool. Wir hätten viel zu bequatschen jetzt. Ich würde alles aufgeben, nur für das.“
„Jeder vermisst Michael“
Auch Corinna Schumacher gesteht: „Es ist ganz klar, dass mir Michael jeden Tag fehlt, und nicht nur mir. Jeder vermisst Michael.“ Trotzdem: „Aber Michael ist ja da. Anders, aber er ist da. Und das gibt uns allen Kraft. Wir machen alles, damit es ihm gut und besser geht, und er den Zusammenhalt der Familie spürt. Michael hat uns immer beschützt und jetzt beschützen wir Michael.“ Das Ende ist ein Anfang.