Eigentlich hatten die Engländer an diesem bezaubernden Abend im Stadio Olimpico nur ein Problem. In allen Himmelsrichtungen der römischen Schüssel hatten sich englische Fan-Gruppen zusammengefunden, und sie alle wollten nahe am Ufer des Tiber noch eine Danksagung empfangen, dass die Nationalspieler gar nicht wussten, wo sie hingehen sollten. Letztlich sparten sie nicht mal die bei Heimspielen von Lazio Rom berüchtigte „curva nord“ aus, die eigentlich dem Anhang aus der Ukraine zugeteilt war.
Selbst hier schwenkten viele Menschen die Flaggen mit dem roten St.-Georgskreuz. Also kam Kapitän Harry Kane mit seinen Kollegen nach der Gala im EM-Viertelfinale gegen Ukraine (4:0) auch noch in diese Ecke. Applaus vom Rasen, Beifall von den Rängen.
Spieler des Spiels
Danach ging der Anführer schnurstracks hinter den Stellwänden für die Fernsehinterviews vorbei, er wollte schon in die Katakomben abtauchen, als ein Delegierter im schwarzen Anzug mit Uefa-Emblem hektisch winkte: Es kam zur Übergabe einer schwarzen Box, die bei jeder Bescherung in einem englischen Wohnzimmer unter den Weihnachtsbaum gepasst hätte. Kane, 59 Länderspiele, 37 Tore, ahnte schon, was der Inhalt sein würde: Jene geschwungene Trophäe, die nach jeder EM-Partie der sogenannte „star of the match“ bekommt.
Neun EM- und WM-Tore
Er ist dann neben dem gläsernen Monstrum auf der digitalen Pressekonferenz nicht nur für zwei, drei flüchtige Fragen sitzen geblieben. England habe eine „fantastische Nacht“ erlebt. Und er selbst? Dass ein Torjäger seines Formats bei einer EM die ganze Stimmungspalette erlebt, gehöre doch zu seiner Stellenbeschreibung, erklärte der 27-Jährige: „Manchmal fällt einem der Ball auf die Füße, manchmal nicht.“
Vielleicht hat keinem die Erlösung gegen Deutschland so gut getan wie dem Leuchtturm der „Three Lions“, der jetzt neun EM- und WM-Tore auf dem Konto hat. Legende Gary Lineker steht bei zehn. Gut möglich, dass Kanes Zeit erst mit der K.o.-Runde gekommen ist. Der 1,88-Meter-Mann hatte im Achtelfinale mit einem vom Bewegungsablauf nicht einfachen Kopfball den Deckel draufgemacht. Im Viertelfinale nutzte der Torgarant der Tottenham Hotspur erst eine Vorlage seines kongenialen Partners Raheem Sterling, dann eine Flanke von Luke Shaw, nachdem Sterling mit der Hacke auflegte. Die italienische Zeitung „Il Messaggero“ würdigte allein den Vollstrecker: „Kane ist Roms König.“ Die „Sun“ hob alle Akteure in den Himmel: „Semi Gods“. Halbgötter. Gemach, gemach.
Riesige Sehnsucht nach dem Titel
Der Matchwinner sagte bloß: „Es geht darum, zum richtigen Zeitpunkt den Höhepunkt zu erreichen. Viele von uns werden so eine Gelegenheit bei einem großen Turnier in Wembley nicht nochmal bekommen.“ Er glaube, dass 60 000 Fans „einen Spirit und eine Energie geben, die wir genießen müssen“. Wenn England die seit der WM 1966 nicht mehr befriedigte Sehnsucht nach einem Titel an heiliger Stätte bedienen will, braucht es die offensive Wuchtbrumme. Eine zu defensive Spielweise ist Gift für die kantige Kultfigur mit der markanten Scheitelfrisur. Auch gegen die Ukraine begnügte sich die Nummer neun mit 18 Pässen, bis er nach 77 Minuten zur Schonung ausgewechselt werden konnte.
Er war der erste Engländer, der zum Halbfinale gegen Dänemark (Mittwoch 21 Uhr/ZDF) den warnenden Zeigefinger hob. Ein Außenseiter, der nach dem Drama um Christian Eriksen nichts mehr verlieren kann; erst recht im englischen Wohnzimmer. Kane, der mit dem beinahe dem Herztod erlegenen Spielmacher sechs Jahre im Verein zusammengespielt hat und wie kein zweiter Mitspieler bis vergangenen Sommer von den Eriksen-Einfällen profitierte, wollte sich zu diesem Thema nicht mehr wirklich äußern; der Fokus gilt dem eigenen Tun, denn: „Wir haben noch nichts erreicht.“