Vielleicht noch mal ganz zurück an den Anfang: Fünf Wochen ist es jetzt her, dass der putzige Sportplatz des 1. FC Garmisch-Partenkirchen einen Auflauf erlebte, wie vielleicht nie wieder. Die Regenwolken hingen so tief, dass die Zugspitze im Hintergrund nicht erkennbar war, dennoch herrschte Volksfeststimmung unter den bunten Regenschirmen, als die schottische Nationalmannschaft an jenem Montag ihr öffentliches Training abhielt. Danach sollte ein Mitglied des Trainerstabs grinsend im Eissportzentrum sagen, man habe das typische Wetter mitgebracht. Wenn schon 100.000 Landsleute in München gegen den Gastgeber erwartet würden, wolle man sich halt wie zu Hause fühlen. Wie jeder heute weiß: Weder die Prognose mit dem Wetter noch den Fans war gelogen.
Im Zeichen der Fans
Die „Tartan Army“ riss zum Eröffnungsspiel ganz München mit. Der Startschuss für eine Europameisterschaft, die von Anfang bis Ende im Zeichen der Fans stand. Jede Partie irgendwie ein Happening – selbst wenn mal wieder ein Gewitter einsetzte. Überall haben sie trotzdem gesungen, getanzt und gefeiert. 15.000 Slowenen in Stuttgart, 30.000 Rumänen in Frankfurt oder 40.000 Polen in Berlin. „United by Football“ – im Herzen von Europa vereint. Das hat Massen berührt und begeistert. Weil die Mehrzahl auch in der Niederlage noch fröhlich und friedlich blieb, entstanden Begegnungen, die Europa in jenen Momenten ein bisschen mehr zusammenwachsen ließen.
Nicht die EM der Superstars
Die Leidenschaft auf den Rängen hat über so manche Länge auf dem Rasen hinweggeholfen. Insbesondere die Topspieler waren nach einer kräftezehrenden Saison teilweise am Ende. Der Engländer Jude Bellingham gestand nach dem Champions-League-Finale „komplett tot“ zu sein. Kylian Mbappé brach sich früh die Nase, Granit Xhaka riss sich spät den Muskel – und auch an Cristiano Ronaldo nagt der Zahn der Zeit. Nein, dieses Turnier war keines der Superstars: Die Inspiration kann auch nicht mehr von den Nationalmannschaften kommen. Dafür sind Topklubs aus Madrid, Manchester oder München da, die auf jeder Position eine Weltauswahl zusammengestellt haben. Trends werden vermehrt in der Champions League gesetzt.

Auch die WM 2006 und ihr Sommermärchen, das wird gerne vergessen, war keines mit einem fußballerischen Impuls. Deutschland konnte damals noch viel leichter in einen Rausch fallen, da der Rahmen unbeschwerter war – und die Empörungsblasen der sozialen Medien noch nicht bestanden. Wer die Leistungen der deutschen Nationalmannschaft vergleicht, muss kon-
statieren: Genau wie Projektleiter Jürgen Klinsmann hätte jetzt auch Julian Nagelsmann mindestens das Halbfinale verdient gehabt. Weil eine deutsche Nationalelf endlich wieder inspirierend aufgetreten ist. Ihr Schwung, ihr Elan, ihr Stil taugte dazu, die Menschen wieder mitzunehmen.
Chaos statt deutsche Effizienz
Aber irgendwie passte das Abschneiden zu dem Eindruck, dass Deutschland die Chancen mit der Europameisterschaft 2024 nicht vollumfänglich genutzt hat. So wie Turnierdirektor Philipp Lahm und vor allem Turnierbotschafterin Celia Sasic es versäumten, öffentlich stärkere Akzente zu setzen, wäre als Organisator mehr gegangen, um das Image aufzupolieren. Die offenkundige Zurückhaltung der Bundesregierung fiel der Veranstaltung in einem Punkt auf die Füße: Insbesondere der Transport lief bestenfalls befriedigend. Unpünktliche Züge, überfüllte Straßenbahnen, schlechte Kommunikation sorgten nicht immer, aber zu oft für Verdruss. Nach dem chaotischen Abtransport aus der Arena in Gelsenkirchen konstatierte die „New York Times“: „Euro 2024 und deutsche Effizienz – vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glaubten.“ Nach einem Zugausfall stieg die Nationalmannschaft der Niederlande vor dem Halbfinale in Dortmund kurzfristig auf einen Flieger um. Es war übrigens nicht der einzige Kurzstreckenflug, der das Nachhaltigkeitskonzept konterkarierte. Plötzlich soll die Bahninfrastruktur auf Vordermann gebracht werden. Warum erst jetzt?

Viele haben sich wie der bei der Europäischen Fußball-Union (Uefa) als Wettbewerbsdirektor zuständige Martin Kallen damit beholfen, ausreichend Puffer einzuplanen. „Manchmal ist das ein bisschen mühsam, aber das Angebot ist eigentlich groß und vielfältig.“ Und so sind die meisten doch pünktlich ins Stadion gekommen. Dort entfaltete sich das, was sich alle in einer Zeit mit Kriegen und Krisen erhofft hatten: Emotionen und Impressionen. Beste Ablenkung von den Alltagssorgen. Im Gegensatz zur Weltmeisterschaft 2022 in Katar kam alles wieder authentischer rüber: Europa lebt Fußball aus der langen Tradition mit tiefer Überzeugung und benutzt ihn nicht so offensichtlich als politisches Vehikel.
Unschöne Episoden
Doch wie schmal der Grat ist, zeigte sich immer wieder in den unschönen Episoden, als albanische und serbische Anhänger mit nationalistischen Tönen, ungarische, österreichische und deutsche Fans bei einzelnen Veranstaltungen mit rechtsradikalen Parolen aus der Rolle fielen. Nichts hat indes so weite Kreise gezogen, wie die Verwerfungen beim Achtelfinale zwischen der Türkei gegen Österreich. Auf einmal jubelte der Doppeltorschütze Merih Demiral in Leipzig mit dem „Wolfsgruß“, verteidigte seine rechtsextreme Geste auch noch, die deutsche Innenministerin Nancy Faeser meldete sich – und fertig war der deutsch-türkische Eklat. Prompt reiste der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im Beisein des ihm treu ergebenen deutschen Weltmeisters Mesut Özil zum Viertelfinale nach Berlin. Dass das türkische Team sich an jenem Tag verabschiedete, ersparte dem Turnier unbequeme Kontroversen.

Der vor der EM 2012 in der Ukraine und Polen mit noch ganz anderen Problemen konfrontierte Kallen hat bei einer Ehrung der Volunteers in München trotz allem von einer gelungenen EM gesprochen. Denn: „Die Fans kommen, um den Event zu feiern und eine schöne Zeit zu haben. Es wäre super, wenn sich das im Fußball so weiterentwickeln würde.“ Das ist die Hoffnung, die als Vermächtnis bleibt. Mehr geht heutzutage nicht mehr.