Herr Radermacher, Sie sagen, pauschale Aussagen wie „Bahnfahren ist umweltfreundlich“ oder „Fliegen ist umweltschädlich“ sind falsch. Warum?
Die allermeisten Analysen betrachten nur die einzelnen Verkehrsträger wie etwa das Auto, das Flugzeug oder die Bahn. Sie vergessen aber, das Gesamtsystem mitzubedenken, und das macht mit Blick auf die Umweltfreundlichkeit einen gravierenden Unterschied.
Welchen denn?
Jedes Verkehrssystem braucht eine Infrastruktur, und die ist meist ein wahres CO2-Grab. Nehmen Sie beispielsweise den Fernverkehr der Bahn. Um Strecken zu bauen, sind Unmengen an Beton und Stahl nötig. Dazu kommen Metalle wie Kupfer für die Oberleitungen. Alle diese Materialien sind in der Produktion so CO2-intensiv, dass die Umweltbilanz tiefrot ist, bevor überhaupt der erste Passagier transportiert werden kann. Ähnlich verhält es sich auch bei Fernstraßen und Autobahnen. Der Flugverkehr schneidet in dieser Hinsicht viel besser ab. Man braucht zwar Beton für Flughäfen, aber dazwischen eben keine Straßen oder Schienenwege.
Was heißt das konkret?
Mein Lieblingsbeispiel ist die ICE-Strecke Frankfurt – Köln. Die Trasse ersetzt eine schon bestehende Strecke und ist sehr aufwendig gebaut. Wie heute üblich, wurden die Gleise nicht mehr auf Schwellen, sondern auf einer festen Beton-Fahrbahn verlegt. Von den 170 Kilometern Gesamtlänge verlaufen 47 Kilometer in Tunneln. Allein für die Produktion des Betons und Stahls für die Tunnel wurden 850 000 Tonnen CO2 emittiert. In Summe sind von Baubeginn bis Fertigstellung der gesamten Strecke mehrere Millionen Tonnen CO2 angefallen.
Je mehr Pendler die Strecke befahren, desto günstiger wird die Klimabilanz …
Das stimmt, aber der CO2-Rucksack, den jeder Bahnreisende mit sich herumschleppt, bleibt immer noch erheblich. Auch wenn es sich bei der Trasse um eine der am stärksten frequentierten Bahnstrecken in Deutschland handelt, auf der in den ersten 15 Jahren des Betriebs rund 220 Millionen Fahrgäste unterwegs gewesen sind, bleiben pro Person und Fahrt CO2-Belastungen im zweistelligen Kilogramm-Bereich, die bereits Jahre oder Jahrzehnte zuvor beim Bau der Strecke angefallen sind. Natürlich schmilzt dieser CO2-Rucksack im Laufe der Zeit, aber auch bei 500 Millionen Fahrgästen haben wir Werte im einstelligen Kilogrammbereich und das ist nur das CO2, das für den ursprünglichen Bau der Strecke veranschlagt werden muss. Da ist noch kein Zug gebaut und kein Zug gefahren!

Ist es besser, ins Flugzeug zu steigen?
Nein, eine derart pauschale Aussage ist auch nicht richtig! Klar ist, dass das Flugzeug einige entscheidende Vorteile gegenüber straßen- oder schienengebundenen Systemen hat. Eine CO2-intensive Wege-Infrastruktur wird nicht benötigt. Zudem ist die Auslastung von Flugzeugen viel besser als diejenige von Autos und Zügen. Selbst bei voller Auslastung werden in einem ICE über 900 Kilogramm Masse pro Passagier bewegt. Bei einer Durchschnittsbelegung von gut der Hälfte der Plätze steigt dieser Wert auf 1,6 Tonnen und ist damit noch schlechter als beim Auto, wo bei durchschnittlicher Besetzung rund eine Tonne pro Person bewegt werden muss. In einem Airbus 350 sind es beispielsweise nur 514 Kilogramm.
Dennoch ändert das doch nichts daran, dass das Flugzeug ein Klimakiller ist?
Es ist unstrittig, dass ein Flugzeug von allen Verkehrsmitteln die meiste Antriebsenergie benötigt. Die Entscheidung, aus Klimagründen das Flugzeug, das Auto oder die Bahn zu nutzen, ist jedenfalls nicht so schwarz-weiß, wie viele Experten derzeit glauben machen wollen. Eine ganzheitliche und regionenspezifische Betrachtung der sehr komplexen Verkehrssysteme führt dazu, dass sicher geglaubte Wahrheiten verschwimmen. Bahnfahren im flachen Holland benötigt keine Tunnel und Talbrücken und ist CO2-mäßig vorteilhafter, als wenn man mit dem Eurostar von Paris unter dem Ärmelkanal durch nach London fährt, wo in jahrelanger Arbeit mehrere 50 km lange Stahlbeton-Tunnelröhren unter dem Ärmelkanal gebaut werden mussten.
Sind Sie ein Bahn-Hasser?
Nein, gar nicht. Ich bin in meinem Leben schon sehr viel Bahn gefahren und tue dies auch weiterhin. Mir geht es aber darum, dass angesichts der zunehmenden Umwelt- und Klimadiskussion die Grundannahmen, die wir treffen, auch stimmen. Im Moment orientiert sich die Politik hauptsächlich daran, was aus dem Auspuff herauskommt. Das ist aber nur ein Aspekt von vielen und führt zuweilen in die falsche Richtung. Wir brauchen ganzheitliche Analysen über die Umweltverträglichkeit von Verkehrssystemen, die viel mehr als den Kraftstoffverbrauch miteinschließen. Solche ehrlichen Rechnungen gibt es viel zu wenige.
Studien zur CO2-Effizienz von E-Autos schließen aber meist den Aufwand für die Batterieproduktion oder die Art des verwendeten Stroms mit ein …
Ja, aber die besagte Infrastrukturproblematik des Autos oder der Bahn bleibt durchweg unberücksichtigt und auch weiterhin bestehen. In der öffentlichen Diskussion begehen wir an dieser Stelle einen methodischen Fehler. Beispielsweise bräuchten wir uns keine großen Gedanken um die Wahl des richtigen Verkehrsmittels zu machen, wenn wir die Nutzungs- und Auslastungsproblematik endlich in den Griff bekämen.

Machen Sie doch einen Vorschlag …
Die Rechnung ist einfach. In Deutschland gibt es rund 47 Millionen PKWs, die im Durchschnitt nur eine Stunde am Tag bewegt werden und durchschnittlich nur mit 1,5 Personen besetzt sind. Würde jedes Auto vier Stunden bewegt, würden wir mit einem Bruchteil der Autos auskommen, und wir bräuchten uns über Staus und CO2-Bilanzen keine großen Gedanken mehr zu machen. Jedes Mittelklasse-Fahrzeug, das nicht gebaut werden muss, spart etwa 8 Tonnen CO2 ein, die ansonsten im Produktionsprozess anfallen.
Ist das nicht ein rein theoretischer Vorschlag? Wie soll das funktionieren?
Wir müssen uns vom Gedanken entfernen, dass jeder ein Auto besitzen muss, um damit zu fahren, denn das ist extrem ineffizient. Wir nutzen die Bahn, den Bus oder das Flugzeug ja auch, ohne diese Fortbewegungsmittel selbst zu haben. Und das funktioniert sehr gut. Wenn wir dann noch bereit sind, andere Personen, die zeitgleich dieselbe Strecke zurücklegen wollen, mit im zukünftig autonom fahrenden Fahrzeug zu haben, können sehr viele Fahrten ersatzlos wegfallen.
Und was heißt das konkret?
Plattformmobilität muss viel stärker in den Vordergrund gerückt werden. Das geht von Fahrdienstleistern über die intelligente App, mit der man Autos für einzelne Fahrten buchen kann, bis hin zu autonom fahrenden Fahrzeugen. Warum nimmt man nicht das Geld, das die Politik gerade in die Förderung des Kaufs von privaten E-Autos mit zweifelhafter Umweltbilanz steckt, und subventioniert damit Poolfahrzeuge und eine entsprechende Mobilitätsplattform? In Sachen Verkehrsbelastung und Klimabilanz hätte dies sicher die deutlich positiveren Effekte.