Beim gemeinsamen Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer Hochrhein-Bodensee und der Handwerkskammer Konstanz in der Stadthalle Singen haben sich beide Kammern für eine höhere Geschwindigkeit bei der Bewältigung der Zukunftsherausforderungen ausgesprochen. Vor über 1000 geladenen Gästen warben IHK-Präsident Thomas Conrady und Gotthard Reiner, Präsident der Handwerkskammer Konstanz, dafür, sich dem hohen Tempo, das die Digitalisierung vorgibt, zu stellen.

Ihre Botschaft richtete sich dabei an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen. Auch Gastredner Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, sprach sich in seiner Rede für zügige und mutige Reformen aus, um dem demografischen Wandel und der Digitalisierung Herr zu werden.


Was Michael Hüther zur Wirtschaft sagt


Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), sprach in seiner Rede über die Zukunftsherausforderungen des Standorts Deutschland.
  • Freihandel
    Mit Blick auf den näher rückenden Austritt von Großbritannien aus der EU (Brexit) und auf die protektionistischen Drohungen von US-Präsident Donald Trump warnte Hüther vor einem Abflauen des Welthandels. "Globale Krisen mehren sich, die Expansion des Welthandels hat sich verlangsamt, die transatlantisch geprägte Globalisierung, wie wir sie kennen, wirkt heute erschöpft", konstatierte der 55-Jährige.
  • Konjunktur
    Hüther bescheinigte der deutschen Wirtschaft trotzdem eine Bestnote. "Als wäre die deutsche Wirtschaft gegen all diese Entwicklungen immun, entwickeln sich die Konjunktur und der Stellenaufbau hierzulande wie am Lineal gezogen", sagte der gebürtige Düsseldorfer.
  • Demografischer Wandel
    Allerdings müsse sich Deutschland jetzt den Zukunftsherausforderungen stellen; eine davon sei der demografische Wandel. Um eine Schieflage unserer Sozialsysteme zu verhindern, warb Hüther für einen späteren Renteneintritt, eine vermehrte Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie eine aktiv gesteuerte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt.
  • Digitalisierung
    Als zweite große Herausforderung identifizierte Hüther die Digitalisierung, welche die Wirtschaft durcheinanderwirbeln werde. "Ganze Geschäftsmodelle werden obsolet und entstehen neu", so die Analyse des IW-Direktors.

„Die digitale Erfassung, Übertragung, Speicherung und Auswertung, die Steuerung und Optimierung jedweder Prozesse wird zu einer enormen Beschleunigung führen“, sagte Thomas Conrady. Gleichzeitig wies er auf die Fliehkräfte der Digitalisierung hin. Unsere Welt müsse mit den Spannungen zurechtkommen, die sich daraus ergeben, dass die Uhren der technischen, der gesellschaftlichen und der sozialen Entwicklung nicht überall gleichlaufen.

Herausforderungen der Digitalisierung für das Handwerk

Vor diesem Hintergrund warb Conrady mit Blick auf die Haushaltsüberschüsse des Staates für zukunftsweisende Investitionen. „Nicht der Ausbau konsumptiver Ausgaben, sondern die Investitionen – in die Straßen- und Schieneninfrastruktur, in die digitale Infrastruktur, in die Bildungsinfrastruktur – sind das Gebot der Stunde“, sagte er.

Gotthard Reiner wies im Anschluss auf die praktischen Herausforderungen der Digitalisierung für das Handwerk hin. „Der digitale Wandel verlangt von uns einiges ab, vor allem ein hohes Tempo“, sagte er. Als Beispiele für neue Technologien, die auch im Handwerk eingesetzt werden könnten, nannte Reiner 3-D-Drucker, Drohnen, Roboter und autonom fahrende Autos. „Das sind keine Hirngespinste eines Science-Fiction-Autors, sondern längst Realität“, betonte Reiner. Heute fresse nicht mehr der Große den Kleinen, sondern der Schnelle den Langsamen.

Auch Reiner forderte mehr Anstrengungen bei der Verbesserung der digitalen Infrastruktur. Es sei notwendig, den Breitbandausbau zügig voranzutreiben und „Glasfaser bis in den kleinsten Ort zu bringen“, so Reiner. Der Elektroinstallateurmeister wies auch auf die Erfolge des Handwerks im vergangenen Jahr hin: 1800 Nachwuchshandwerker, darunter 120 Flüchtlinge, haben im Kammergebiet eine Ausbildung begonnen; 300 Handwerker haben einen Meisterbrief erhalten und über 1000 Handwerker haben einen eigenen Betrieb gegründet, so Reiner.

Kammerpräsident fordert mehr Mut: "Es muss sich etwas bewegen"

Damit diese Erfolgsbilanz fortgesetzt werden könne, forderte der Kammerpräsident – vor allem mit Blick auf die schleppende Regierungsbildung in Berlin – mehr Mut und Gestaltungswillen. „Es muss sich etwas bewegen, es muss gestaltet und entschieden werden“, sagte er. „Unsere Unternehmen investieren nicht gerne, wenn nicht klar ist, wie sich die Steuersätze, Sozialbeiträge oder bestimmte Gesetzgebungen entwickeln werden“, so Reiner weiter.

Nachdenklich äußerte sich Conrady dagegen zur Zukunft Europas. Der Integrationsprozess habe nicht nur an Fahrt verloren, sondern drohe, sich zurückzudrehen. „Wenn wir nicht viel Mühe, Energie, Überzeugung und Herz in dieses große Projekt investieren, das uns bald siebzig Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert hat, laufen wir tatsächlich Gefahr, dass die Uhren hier rückwärts laufen“, warnte der Unternehmer. Einzelne Länder oder Regionen wie Großbritannien hätten den Blick dafür verloren, was sie an der Europäischen Union haben.

Für die musikalische Begleitung des Neujahrsempfangs sorgte übrigens das Raphael Jost Standards Jazz-Trio aus der Schweiz. Textlich hätte wohl auch ein Lied der deutschen Sängerin Nena („99 Luftballons“) zum Geist der Veranstaltung mit ihren Gedanken über Zeit und Zukunft gepasst. „Denk nicht lange nach/ Wir fahr’n auf Feuerrädern/ Richtung Zukunft durch die Nacht“ heißt es in ihrem Hit „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ aus den 80er-Jahren.