Gerald Holler ist nervös. Vor 800 Zuhörern soll er davon berichten, wie er mit seiner ersten Geschäftsidee scheiterte. Krachend scheiterte. Wie er verklagt wurde, mit Schulden zu kämpfen hatte, ganz unten war. Zu seiner Geschichte gehört jedoch auch der erneute Aufstieg, das Emporkämpfen aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Holler ist 40 Jahre alt, Unternehmer, und spricht in Heidelberg zum ersten Mal auf einer sogenannten Fuckup Night. Weitere sollen folgen.
Hier berichten Unternehmer vor Publikum von ihren geschäftlichen Misserfolgen, ihrem persönlichen „Fuckup“ (engl.: Scheitern, Mist bauen). Zum ersten Mal fand eine solche Veranstaltung 2012 in Mexico City statt. Mittlerweile hat sich die Idee allerdings weltweit ausgebreitet, in Deutschland werden in mehreren Städten bereits Fuckup Nights organisiert. Und es kommen immer neue dazu.
Die Geschichten des Versagens sollen nicht nur unterhalten, sie beinhalten auch eine Botschaft, ein Mantra, das besonders für Start-up-Unternehmen wichtig ist: Das Scheitern gehört zum Lernprozess dazu. „Es interessiert die Leute einfach, wie es für einen Unternehmer nach dem Fehlschlag weitergeht“, sagt Ivon Pezer vom Start-up „Accelerate Stuttgart“. Das Unternehmen organisiert regelmäßig Fuckup Nights in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs. Mit Erfolg: Die dreizehnte Auflage steht bereits in den Starlöchern.
Start-up
Ein junges Unternehmen wird oft als Start-up bezeichnet, wenn es eine innovative Geschäftsidee hat und mit dem Ziel gegründet wird, schnell zu wachsen. Gerade in der Digitalbranche sind diese Start-ups ein Treiber von Innovationen. So sind Unternehmen wie Google, Facebook oder Twitter allesamt als Start-up gestartet. (td)
„Es geht hier auch darum, das Thema des Scheiterns zu enttabuisieren“, sagt Philipp Kessler vom Start-up-Netzwerk Bodensee. Er hat als Gast bereits eine Fuckup Night in Zürich besucht und das Scheitern ebenfalls schon selbst erfahren. „Dass es nicht funktionieren könnte, ist bei Start-ups vermutlich eher präsent als bei anderen Unternehmen. Das Scheitern ist Teil der Methodik. Man will schnell scheitern und daraus lernen, und nicht mit einem Versuch mehrere Millionen in den Sand setzen“, sagt Kessler. Besonders interessant sei es gewesen, die persönliche Komponente zu hören: „Das Persönliche ist besonders tragisch, wenn Gesundheit und Beziehung leiden. Ich wollte sehen, wie die Leute das verarbeitet haben. Dieser Aspekt ist viel schwieriger als der geschäftliche.“
Ein Video von der zwölften Stuttgarter Fuckup Night :
Sich selbst verloren
Marthe-Victoria Lorenz, 29, berichtet auf den Fuckup Nights von keinem gescheiterten Projekt und auch von keiner Insolvenz. Ihr „Fuckup“ war ganz persönlicher Natur. Sie gründete mit der Homepage Fairplaid die größte deutsche Crowdfunding-Plattform für Sport. Ein Finanzierungskonzept, bei dem Internetnutzer über die Homepage zur Beteiligung aufgerufen werden. „Mein Problem war, dass ich mich selbst verloren habe“, sagt Lorenz. Sie erreichte eine depressive Phase und verlor die Balance zwischen mentaler Gesundheit und dem Einsatz für das eigene Unternehmen. „Es ist sehr gefährlich, sich selbst zu vernachlässigen“, sagt sie. Lorenz konnte sich jedoch selbst helfen: Sie ging in den Urlaub, machte Sport. Wenn sich jetzt so etwas wieder anbahnt: „Dann ziehe ich sofort die Reißleine.“ Ihr habe es immer geholfen, nicht nur Erfolgsgeschichten zu hören. Bei den Fuckup Nights wollte sie daher etwas zurückgeben.
Kostspielige Falschberatung
Gerald Holler ist 18, als er sein erstes Unternehmen gründet: Einen Verteilservice für adressgebundene Briefsendungen. „Im Alter von 20 hatte ich einen Betrieb, der mehrere Millionen Euro Umsatz machte“, sagt Holler. Das Geschäftskonzept scheint sicher, er hat es von Anwälten prüfen lassen – und wurde falsch beraten. Die Konsequenzen muss er tragen. Sein Geschäft verstößt gegen das Postmonopolgesetz. Holler wird verklagt, hat schließlich mit einem Schuldenberg zu kämpfen, der in die Hunderttausende geht. Jahrelang arbeitet er daran, ihn abzutragen. Es gelingt ihm. Heute hat er mit der IT-Firma Compris ein eigenes Geschäft, das gut läuft. „Scheitern gehört dazu. Ich habe aus diesen Momenten gelernt“, erklärt er. An diesem Prozess will er die Besucher der Fuckup Nights teilhaben lassen: „Manche verpuppen sich nach dem Scheitern in ihrer Angst. Ich will Auslöser geben, wieder herauszukommen. Es ist zu meinem Mantra geworden, dabei zu helfen“.
Plötzlich entlassen
Svent Ettl, 50, war 13 Jahre in verschiedenen Führungspositionen bei der Porsche AG in Stuttgart beschäftigt – zuletzt als kaufmännischer Leiter bei der Niederlassung in Stuttgart. Immer auf der Erfolgsspur. Traumjob gefunden. Und dann plötzlich wie aus heiterem Himmel: Vollbremsung. Aufhebungsvertrag. „Das war so ein erster schwerer Schicksalsschlag. Die Frage ist, wie man damit umgeht“, sagt Ettl. Er macht weiter, beteiligt sich an einem Unternehmen für digitale Medien – sehr erfolgreich. Mit zwei Studenten gründet er ein Start-up. Es funktioniert nicht: „Die beiden Studenten hatten festgestellt, dass sie gerade ihre Masterthesis schreiben und eigentlich keine Zeit für das Start-up haben. Wieder um eine Erfahrung reicher“. Ettl unterrichtet an der ESB Business School in Reutlingen das Thema Existenzgründung. Nach den Fuckup Nights bekam er zahlreiche Vortrags-Anfragen.
Wenn Träume auf einmal zerplatzen
Oliver Dobisch hat einen Traum: Mit seiner Musik Geld verdienen. Er kommt ihm nahe, als er mit Ende 20 einen Musikclub übernimmt. Ohne Erfahrung in Gastronomie oder Veranstaltungsplanung scheitert das Vorhaben jedoch. Dobisch verliert alles: „Ich hatte zwei Euro in der Tasche, keine Wohnung, keine Krankenversicherung.“ Er meldet sich wohnsitzlos, geht mit seiner Band auf Tour, wird alkoholkrank und steht vor dem Aus: „Ich wollte mir das Leben nehmen. Wie und wo stand schon fest“, sagt er. Dann lernt er seine heutige Lebensgefährtin kennen und schöpft neuen Mut. Mit ihr macht er erfolgreich Musik und Kabarett. Er spricht vor Menschen über seine Erlebnisse und merkt, dass er helfen kann und Spaß daran hat. Dobisch wird Motivationstrainer, psychologischer Berater, Suchtberater. „Hätte ich dieses Leben nicht gelebt, wäre ich heute nicht, wer ich bin“, sagt der 45-Jährige. Bei den Fuckup Nights will er den Zuhörern die Angst vor dem Scheitern nehmen.
Nicht weiter konkurrenzfähig
Daniel Drexlmaier, 30, ist Geschäftsführer der Medienmanufaktur Spurenelemente aus Stuttgart. „Wir wollten mit Luftaufnahmen Geld machen“, sagt er. Die Idee klang vielversprechend, war es aber nicht. Der Preis für eine Drohne belief sich 2010 auf etwa 20 000 Euro, hinzu kam noch eine hochauflösende Kamera. Dann der bürokratische Aufwand: „Es gab sehr viele Auflagen. Um eine halbe Stunde fliegen zu können, mussten wir vier Wochen vorher einen Antrag stellen. Regnete es, war auch der Aufstiegsbetrag von 200 Euro futsch“, erklärt Drexlmaier. Viele Hobbyfotografen boten diesen Service schwarz an. Drohnen wurden schließlich für jedermann erschwinglich – und die Geschäftsidee starb. „Wir waren nicht mehr konkurrenzfähig“, sagt Drexlmaier. Diese Erfahrung teilt er auf den Fuckup Nights. Heute mache der Betrieb vieles anders: „Wir schauen unser Umfeld, sowie rechtliche Lage und Konkurrenzsituation genau an“.