In Deutschland wird kaum ein Thema so hitzig diskutiert wie das Bürgergeld. Kritiker behaupten, es nehme vielen den Anreiz zu arbeiten – Befürworter widersprechen und verweisen auf klare Einkommensvorteile für Erwerbstätige. Jetzt liefert eine neue Untersuchung frische Zahlen: Sie zeigt, wie groß der Abstand zwischen Bürgergeld und Arbeit ist – und in welchen Fällen der Unterschied überraschend klein ausfällt. Warum das so ist und welche Gruppen besonders betroffen sind, lesen Sie hier.
Neue Studie: Lohnt sich Arbeiten wirklich mehr als Bürgergeld?
Eine aktuelle Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung räumt mit einem weitverbreiteten Vorurteil auf: Demnach lohnt sich Arbeit in Deutschland immer – und zwar deutlich mehr als der alleinige Bezug von Bürgergeld. Für die Berechnungen nutzten die Forschenden das WSI-Steuer- und Transfermodell, das sämtliche relevanten Abgaben sowie staatliche Sozialleistungen einbezieht.
Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig: Egal ob Single, Alleinerziehende oder Familie – wer Vollzeit zum Mindestlohn arbeitet, hat mehr Geld zur Verfügung als Bürgergeld-Empfänger. Für Alleinstehende liegt der monatliche Vorteil im bundesweiten Durchschnitt bei 557 Euro. Nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben bleiben netto laut Studie rund 1546 Euro, zusammen mit geschätztem Wohngeld steigt das verfügbare Einkommen auf 1572 Euro. Zum Vergleich: Bürgergeld bringt Alleinstehenden 1015 Euro, bestehend aus Regelsatz und Unterhaltskosten.
Alleinerziehende mit einem fünfjährigen Kind kommen den Studienergebnissen zufolge bei einer Vollzeitstelle zum Mindestlohn sogar auf einen Vorsprung von 749 Euro. Das verfügbare Einkommen beträgt hier 2532 Euro – unter anderem dank Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld und Unterhaltsvorschuss. Mit Bürgergeld wären es lediglich 1783 Euro. Auch bei einer Paarfamilie mit zwei Kindern – im Beispiel fünf und 14 Jahre – und nur einem Verdiener zeigt sich ein klarer Unterschied: 3414 Euro stehen bei Erwerbstätigkeit zur Verfügung, 2754 Euro beim Bürgergeld – ein Plus von 660 Euro.
Möglich wird dieser Lohnabstand dem WSI zufolge durch gezielte staatliche Zuschüsse wie Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag sowie durch Hinzuverdienstregelungen im Bürgergeld-System. Sie sollen sicherstellen, dass Erwerbstätige nicht auf Grundsicherung angewiesen sind.
Die Studie macht jedoch deutlich, dass es regional deutliche Unterschiede gibt. In Städten mit sehr hohen Mieten, etwa München, fällt der finanzielle Vorsprung am geringsten aus, weil dort auch die Bürgergeld-Leistungen aufgrund höherer Unterkunftskosten steigen. Hier ist der Vorteil einer Vollzeit-Mindestlohnstelle im Vergleich zum Bürgergeld für einen Singlehaushalt oft unter 400 Euro pro Monat, teilweise sogar noch weniger, wenn man weitere Abzüge oder Fahrtkosten berücksichtigt. Im Osten Deutschlands, einschließlich Berlin, liegt der Abstand im Schnitt bei 570 Euro, im Westen bei 549 Euro.
Bürgergeld oder Arbeit zum Mindestlohn: Abstand stark von der Region abhängig
Die WSI-Studie will vor allem eines zeigen: Der Sprung von keiner Erwerbstätigkeit hin zu einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstelle zum Mindestlohn lohnt sich finanziell. Sie betrachtet also den großen Abstand zwischen Bürgergeld und Arbeit – und setzt dafür auf ein Modell mit klaren, vergleichbaren Annahmen.
Sie rechnet stets mit einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeittätigkeit von 38,19 Stunden pro Woche zum gesetzlichen Mindestlohn – und zwar unter der Annahme, dass nur eine Person im Haushalt arbeitet. In der Realität, räumen die Autoren selbst ein, sind solche Stellen gerade in teuren Städten wie München kaum zu finden. Für Kritiker ist das eine Vereinfachung, die zwar den Lohnabstand klarer darstellt, aber die tatsächliche Arbeitsmarktsituation nur eingeschränkt widerspiegelt.
Ein weiterer Punkt: Der Rundfunkbeitrag wird im Steuer- und Transfermodell des WSI nicht berücksichtigt. Bürgergeld-Haushalte sind davon befreit, Erwerbstätige hingegen zahlen monatlich 18,36 Euro. Die Studie weist zwar darauf hin, dass dieser Betrag bei Bedarf vom Lohnabstand abgezogen werden kann – faktisch fällt der finanzielle Vorsprung damit aber etwas geringer aus, als die ausgewiesenen Zahlen vermuten lassen.
Bürgergeld-Debatte nach neuer Studie – wie viel ist Freizeit eigentlich wert?
Die Veröffentlichung der WSI-Zahlen hat in den sozialen Medien und Kommentarspalten – etwa auf Reddit und Facebook – eine lebhafte Debatte ausgelöst. Häufig wird der monatliche Lohnabstand von 557 Euro bei einem Vollzeit-Mindestlohnjob auf die Arbeitsstunden heruntergerechnet – rund drei Euro netto pro Stunde zusätzlich im Vergleich zum Bürgergeld. Kritiker halten diesen Mehrbetrag für gering, zumal zusätzliche Kosten wie Miete oberhalb der angenommenen 450 Euro, Fahrtkosten, Mittagessen, Arbeitskleidung oder Kinderbetreuung in der WSI-Berechnung fehlen und den Vorsprung deutlich schmälern könnten.
Oft geht es in den Kommentaren auch um den Wert von Freizeit. Einige sprechen hier von „Opportunitätskosten“ – laut Munich Business School der Nutzen, den man verliert, wenn man sich für eine bestimmte Option entscheidet. Im Kontext der Bürgergeld-Debatte wäre das die Zeit und Erholung, auf die man verzichtet, weil man arbeitet. Damit verlässt die Diskussion allerdings den rein finanziellen Rahmen der WSI-Studie und führt zu einer gesellschaftlichen Grundsatzfrage: Wie groß müsste der Lohnabstand sein, damit Arbeit als „lohnend“ empfunden wird?