Deutschland atmet auf. Nach quälend langen Monaten haben sich die Bahn und die streitlustige Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt. Pünktlich zu Ostern müssen Pendler nicht mehr fürchten, auf leeren Bahnsteigen zu stehen und Firmen, keinen Nachschub mehr zu bekommen.

Der Bahn-Streik darf nicht Schule machen

Dennoch ist jetzt nicht alles gut. Denn der Tarifkampf im Schienenverkehr hat Deutschland deutlich mehr als nötig abverlangt. Mit einer selten gesehenen Unnachgiebigkeit hat die GDL und ihr Frontmann Claus Weselsky die Bahn und Hunderttausende Pendler über Monate in Geiselhaft genommen. Zuletzt mit Wellenstreiks, die es dem Einzelnen besonders schwer machen, die Folgen abzufedern.

Martin Seiler, Personalvorstand der Deutschen Bahn (DB), spricht mit Journalisten bei einer Pressekonferenz über die Einigung mit der ...
Martin Seiler, Personalvorstand der Deutschen Bahn (DB), spricht mit Journalisten bei einer Pressekonferenz über die Einigung mit der GDL im Tarifkonflikt. Monatelang verhandelte Seiler mit der GdL. | Bild: Carsten Koall

Eskaliert hat die Lage nicht nur die Forderung nach mehr Lohn und kürzeren Arbeitszeiten. Ein Gutteil der Rechnung, die Weselsky Deutschland jetzt präsentiert, geht auf den Wettkampf der GDL mit der sehr viel größeren Eisenbahnergewerkschaft EVG zurück.

Hier wollte Weselsky punkten und sich nebenbei – kurz vor seinem Abgang in den Ruhestand – mit der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ein Denkmal setzen. Das ist ihm gelungen. Die 35-Stunden-Woche kommt, wenn auch mit einer langen Übergangsfrist von einem halben Jahrzehnt bis 2029. Und sie ist optional. Wer sie nicht will, kann sich für mehr Gehalt entscheiden. Diese Art der Wahlfreiheit zwischen einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit oder mehr Geld ist mittlerweile Bestandteil vieler Tarifverträge, die sich das Etikett „fortschrittlich“ anheften wollen.

Wie geht der Umbau Deutschlands mit immer weniger Arbeitszeit zusammen?

Wie fortschrittlich der Trend ist, muss sich indes noch erweisen. Denn wer soll die ganze Arbeit verrichten, wenn immer mehr Beschäftigte ihr persönliches Arbeitspensum reduzieren? Wie passt das zur sich verschärfenden Knappheit von Arbeitskräften? Und wie soll ein Steuerstaat leistungsfähig bleiben, wenn das Arbeitsvolumen als eine seiner wichtigsten Säulen für die Besteuerung erodiert?

Reisende stehen auf dem Bahnsteig im Hauptbahnhof Hannover, während ein ICE einfährt. Streiks vor Ostern muss jetzt niemand mehr fürchten.
Reisende stehen auf dem Bahnsteig im Hauptbahnhof Hannover, während ein ICE einfährt. Streiks vor Ostern muss jetzt niemand mehr fürchten. | Bild: Julian Stratenschulte, dpa

Bei der Bahn schließt sich zudem die Frage an, wer den wahrscheinlich höchsten Abschluss aller Zeiten erwirtschaften soll? Zur Erinnerung: 2023 hat der Konzern einen Verlust von 2,4 Milliarden Euro eingefahren und schleppt 34 Milliarden Euro Schulden mit sich herum.

Dass in solch einer Lage überhaupt über mehr Lohn und Arbeitszeitverkürzung verhandelt werden konnte, hängt mit der Eigenheit der Bahn als privatwirtschaftlich organisierter Konzern zusammen, der aber voll in der Hand des Bundes ist. Damit ist klar, dass am Ende der Steuerzahler über erhöhte Staatszuschüsse und der Reisende über teurere Tickets, das üppige Lohnplus der Lokführer tragen wird. Weselsky wusste das und hat mit Erfolg gezockt.

Bittere Bilanz des Streiks

Die Bilanz des Bahnstreiks ist also bitter – für die Reisenden, das Bild der Bahn als zuverlässiges Verkehrsmittel und für den Steuerzahler.

Das könnte Sie auch interessieren

Gleichzeitig wird klar, dass aufgrund der Sonderstellung des Konzerns keine Rückschlüsse auf das Streikgeschehen im Allgemeinen gezogen werden sollten. Insbesondere sind Forderungen nach einer Einschränkung des Streikrechts überzogen.

Der Hintergrund der zuletzt immer härteren Tarifauseinandersetzungen ist die Rekordinflation seit 2022. Diese ist eine absolute Ausnahmesituation und allenfalls mit dem ersten Ölpreisschock Mitte der 1970er Jahre vergleichbar. Auch damals ging es hoch her. 1974 erkämpfte die ÖTV unter ihrem legendären Vorsitzenden Heinz Kluncker einen elfprozentigen Tarifabschluss. Danach wurde der Niedergang der Republik ausgerufen. Das war zu voreilig, wie wir heute wissen.

1974 und seine Folgen für heute

Allerdings bewegte sich Deutschland danach in eine längere wirtschaftliche Schwächephase hinein, die durch ein Wechselspiel hoher Inflation und Tarifabschlüsse verfestigt wurde. Nichts wäre aktuell für Deutschland verheerender. Die Tarifverhandler von 2024 sollten sich also ihrer volkswirtschaftlichen Verantwortung bewusst sein. Ein Blick in den Rückspiegel ist Pflicht.