Herr Leopold, was muss ein Reisemobil heute können, damit es gekauft wird?
Die Anforderungen an ein Reisemobil sind so unterschiedlich wie unsere Kunden. Die Zeit, in denen vornehmlich ältere Herrschaften mit Wohnmobil oder Wohnanhänger verreist sind, ist längst vorbei. Caravaning ist in der Breite der Bevölkerung angekommen.
Es gibt Kunden, für die das bequeme Wohnen im Vordergrund steht und die in ihrem Wohnmobil einen gewissen Luxus leben wollen. Für andere ist die Einfachheit und Funktionalität bis hin zur Zweitnutzung als Alltagsfahrzeug wichtig. Autarkie ist ein Thema, das übergreifend nachgefragt wird.
Was bedeutet das?
Das bedeutet, ohne Strom- und Wasseranschluss in freier Natur trotzdem alle Vorzüge eines Wohnmobilstellplatzes genießen zu können. Wir bieten daher für immer mehr unserer Fahrzeuge beispielsweise Solarpanele zur Stromversorgung an.
Ein weiteres Trendthema sind Apps, über die sich alle Komfortfunktionen des Fahrzeugs per Handy steuern lassen, also etwa die Standheizung, die Beleuchtung, Verriegelung oder der Fahrzeugzustand. Das ist eine Art Smart-Home fürs Wohnmobil. Das kommt immer mehr.
Was ist für Sie persönlich im Wohnmobil unverzichtbar?
Wenn wir mit unserem Camper verreisen, sind meistens unsere zwei Töchter dabei. Und die fühlen sich oben im Campingmobil am wohlsten. Deswegen ist für mich ein Aufstelldach ein Muss. Da hat sich technologisch auch viel getan. Im Hymer-Top-Modell, dem Venture S, gibt es beispielsweise ein aufstellbares Aufblasdach mit luftgefüllten Seitenwänden. Man erreicht es nicht über eine Leiter, sondern über eine Treppe. Das Wohngefühl ist wie in einem zweistöckigen Haus.
Muss man als Chef der Erwin Hymer Group (EHG) ein Vollblutcamper sein?
Nicht unbedingt, aber ich glaube es hilft das Nutzererlebnis unserer Kunden zu verstehen und zu verbessern. Ich bin schon mit meinen Eltern im Camper verreist und tue das noch heute mit meiner Familie. Im Vergleich mit einigen unserer Kunden würde ich nicht sagen, dass ich ein „Vollblutcamper“ bin. Meine Familie genießt unsere Reisen und meine Erfahrungen helfen mir bei der Führung des Unternehmens.
Testet der EHG-Chef die Camper eigentlich auch selbst?
Ja klar. In meiner Zeit als Dethleffs-Chef bin ich mit allen Fahrzeuggattungen mit der Familie verreist. Da gab es natürlich auch Punkte zum Verbessern. Da mussten die Ingenieure dann nacharbeiten.
In der Corona-Krise haben sich Zehntausende ein eigenes Wohnmobil zugelegt. Das bringt die Infrastruktur an ihre Kapazitätsgrenzen. Wer am Gardasee einen Stellplatz will, muss lange vorbuchen. Gibt es die große Freiheit auf vier Rädern überhaupt noch?
Für unsere Branche ist die Verfügbarkeit von Stellplätzen eine zentrale Frage. Ich sehe da aber nicht schwarz. Allein im Jahr 2021 sind deutschlandweit rund acht Prozent mehr Stellplätze entstanden. Bauern, Pferdehöfe und Winzer haben da ein ganz neues Geschäftsmodell entdeckt. Drei Stellplätze pro Hof sind in Deutschland überall ohne Bauantrag möglich.
Aber es stimmt schon. Für einige der beliebteren Reiseziele ist heutzutage eine längere Vorausplanung erforderlich. Bei spontanen Reisen muss man flexibler sein. Dann heißt es eben Schweden und nicht Gardasee. Übrigens bietet die Region auch immer mehr tolle Angebote für Camper. Warum nicht für ein langes Wochenende nach Wangen, Bad Waldsee oder Bad Schussenried fahren?

Die Elektrifizierung der Antriebe kommt in allen Fahrzeugklassen. Vor vier Jahren hat Hymer elektrische Reichweiten von bis zu 700 Kilometern bei Wohnmobilen in Aussicht gestellt. Sind Sie auf Spur?
Im Januar stellte unsere Muttergesellschaft Thor den Prototyp eines elektrischen Wohnmobils mit einer Reichweite von fast 500 km vor. Nächstes Jahr kommt unser erster kompakter Campingbus für Reichweiten bis 330 km auf den europäischen Markt. Wir gehen davon aus, dass sich diese Reichweite mit der Verbesserung der Technologie und der Erschwinglichkeit der Technologie erhöhen wird.
Wie sieht es beim Thema autonomes Fahren aus?
Ähnlich wie bei E-Antrieben sind wir auch hier auf die Fahrzeugbauer angewiesen. Die Investitionen in automatisierte Fahrsysteme sind so hoch, dass die EHG das nicht allein stemmen kann. Wir übernehmen aber die Technologien der Hersteller – im Wesentlichen sind das bei uns Mercedes-Benz, Stellantis und Ford – und passen sie an unsere eigenen Bedürfnisse an. Schnellere Fortschritte würden wir begrüßen, denn das autonome Fahren würde für uns ganz neue Möglichkeiten zur Innenraumgestaltung bedeuten.

Was kostet denn ein Wohnmobil von einer Ihrer Marken?
Das ist stark modell- und ausstattungsabhängig. Bei den Wohnwagen (Caravans) fängt es bei 15.000 bis 20.000 Euro an. Bei den Vans und Wohnmobilen bei 50.000 bis 60.000. Nach oben hin gibt es fast keine Grenzen, je nachdem welche Sonderausstattungen gewünscht sind.
Wird es auch bei der EHG teurer?
Ich hoffe, dass wir den größten Teil der Preiserhöhungen schon hinter uns haben. In den vergangenen 18 Monaten sind unsere Produkte aufgrund gestiegener Rohstoff-, Fracht- und Energiepreise um 20 bis 25 Prozent teurer geworden. Auch 2023 wird es teurer werden, aber ich hoffe, nicht mehr in diesem Umfang.

Rekordumsatz, so viele Fahrzeuge wie nie und mehr Mitarbeiter – das war vor genau einem Jahr die Schlagzeile nach der EHG-Bilanz. Wie sieht es heute aus?
Wir verfügen aktuell über einen sehr hohen Auftragsbestand bei einer weiter hohen Nachfrage. Unser Problem ist, dass wir immer noch zu wenig Material bekommen, um die Aufträge abzuarbeiten. Insbesondere die Fahrgestelle fehlen. Im vergangenen Geschäftsjahr, das Ende Juli zu Ende ging ist unser Umsatz gegenüber Vorjahr daher leicht von 2,7 auf 2,6 Milliarden Euro zurückgegangen. Auch die Zahl der verkauften Caravans und Wohnmobile ist von 65.000 auf 60.000 gefallen.
Wurden Stellen bei der EHG abgebaut?
Zum Ende des letzten Geschäftsjahres beschäftigten wir europaweit rund 9000 Mitarbeiter. Seitdem haben wir keinen groß angelegten Stellenabbau vorgenommen.
Wie sieht es im laufenden Geschäftsjahr aus?
Unser Ziel ist Beschäftigungssicherung. Wir planen derzeit sehr vorsichtig und nicht mit starken Steigerungen der Mitarbeiterzahl. Über Kurzarbeit und Maßnahmen zur Arbeitszeitflexibilisierung, versuchen wir über die unsichere Zeit zu kommen. Bisher gelingt das.
Wie lange müssen die Kunden durchschnittlich auf ihr Fahrzeug warten?
Das hängt wirklich von der Konfiguration ab. Es gibt Modelle, die sofort bei den Händlern erhältlich sind, und andere Konfigurationen, die in einigen Wochen oder Monaten verfügbar sein können. Bei einigen unserer Produkte kann es je nach Nachfrage und Auftragsbestand länger dauern. Vereinzelt gibt es Kunden, die ihr Fahrzeug Ende letzten Jahres bestellt haben und es jetzt erst ausgeliefert bekommen.
Wann wird sich das Material- und Lieferkettenproblem entspannen?
Ich sehe derzeit keine Entspannung der Lage und das wird bis zum Ende unseres Geschäftsjahres, das am 31. Juli 2023 endet, andauern. Die Engpässe insbesondere bei Halbleitern, aber auch in der Logistik, halten an.
In den vergangenen Monaten arbeiteten viele EHG-Beschäftigte kurz. Wie sieht es derzeit aus?
Aktuell gibt es keine Kurzarbeit bei uns, aber das kann jederzeit wiederkommen. Die Liefersituation von Vorprodukten ist schlicht nicht kalkulierbar.
Die Produktionsrekorde der Corona-Phase hatten Nebenwirkungen bei den Beschäftigten in Form von Klagen über massive Mehrarbeit, bei gleichzeitiger Kurzarbeit wegen Lieferengpässen bei Teilen. Auf was müssen sich die Mitarbeiter in den kommenden Monaten einstellen?
Ich kann die Nöte der Mitarbeiter sehr gut verstehen. Das hohe Maß an Unsicherheit für die Produktion wird aber in den kommenden Monaten leider fortbestehen. In der jetzigen Zeit hilft nur, gemeinsam flexible Lösungen zu finden und sie in einer Atmosphäre von gegenseitigem Respekt zu diskutieren. An vielen Standorten gelingt das bisher schon gut.
Seit 2019 gehört EHG dem US-Branchenriesen Thor. Wie fühlen Sie sich unter der Führung des US-Konzerns?
Super. Thor ist Marktführer in den USA und hat eine große Tradition und Expertise. Das Verständnis für die Bedürfnisse des EU-Marktes ist da. Unsere Anliegen werden gehört.
Welche Vorteile hat die EHG davon?
Wir haben über Thor Zugriff auf gemeinsame Lieferanten, was gewisse preisliche Vorteile bringt, aber auch auf Plattformtechnologien, etwa im Bereich der Digitalisierung. Da gibt es einen breiten Wissenstransfer, von dem wir profitieren.
Anfang des Jahres gab es staatsanwaltschaftliche Durchsuchungen bei der EHG in Folge von mutmaßlichen Schummeleien wegen geschönter Gewichtsangaben. Wie ist der Stand?
Das Verfahren läuft, weswegen wir uns zu Einzelheiten nicht äußern. Wir kooperieren aber vollumfänglich mit den Ermittlungsbehörden.
Werden Sie von Kunden wegen irreführender Angaben bezüglich des Gewichts verklagt?
Nein. Uns sind diesbezüglich keine Klagen bekannt.
Was sagen Sie Kunden, die befürchten, ihr Wohnmobil nach Polizeikontrollen im Reiseland stilllegen zu müssen, weil es zu schwer ist?
Die Verantwortung, das zulässige Gesamtgewicht einzuhalten liegt bei Herstellern, Händlern und Kunden gleichermaßen. Unsere Hauptaufgabe ist es, in jeder Phase des Beratungsprozesses eine 100-prozentige Transparenz für das Gewichtsthema zu gewährleisten.
Unsere Kunden sollten das Gewicht ihres Fahrzeugs immer überprüfen, bevor sie eine Reise antreten, insbesondere bei grenzüberschreitenden Fahrten, für die andere Vorschriften gelten können. Sollte ein Kunde Fragen haben, stehen ihm unsere Handelspartner und Marken jederzeit gerne zur Verfügung.
Wegen möglicher Manipulation von Abgaswerten auf dem Prüfstand laufen gegen ihren Chassis-Lieferanten Stellantis und einige ihrer Wohnmobil-Händler Abgas-Klagen. Wird in diesem Kontext auch Hymer verklagt?
In der gesamten Branche gab es einzelne Versuche. Klagen gegen unsere Tochtergesellschaften waren allesamt unbegründet und wurden von den Gerichten abgewiesen.