„Deutschland befindet sich nicht mehr im Frieden. Wir werden bereits angegriffen.“ Die Töne, die Oberstleutnant Jörn Plischke vor der Kammerorganisation IHK anschlägt, sind so ungewohnt wie deutlich. Die Zeitenwende – so die Botschaft – ist nicht nur ein Thema für die Bundeswehr. Die stellt sich seit dem Angriff Russlands gegen die Ukraine mit einer umfassenden Aufrüstung auf die neuen geopolitischen Bedingungen ein. Die Wirtschaft hat der Konflikt im Osten Europas bisher lediglich durch höhere Energiekosten und Exportbeschränkungen erreicht.
Für die meisten Unternehmen ist der Krieg weit weg vom eigenen Alltag. Diesem Eindruck wollen die Militärs offenbar entgegentreten und versuchen, die Wirtschaft für die neuen Zeiten zu sensibilisieren. Die Experten in Uniform wie Fallschirmjäger Plischke warnen: „Die historische Ausnahmesituation eines friedlichen Europas neigt sich mit brutaler Geschwindigkeit dem Ende zu.“ Entsprechend sucht die Bundeswehr das Gespräch mit der Wirtschaft. Konkret treten Vertreter der Landeskommandos bei Veranstaltungen von Kammern und Verbänden auf.
1000 Seiten für den Krisenfall
„Operationsplan Deutschland“ (OPLAN) heißt eine gut 1000 Seiten umfassende Unterlage des Verteidigungsministeriums, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Ein Sprecher des Landeskommandos Bayern lässt durchblicken, dass es um Maßnahmen geht, wie im Krisenfall eine große Zahl von Menschen und Material quer durch die Republik bewegt werden kann. Zudem listet die Unterlage beispielsweise alle Bauwerke und Infrastruktureinrichtungen auf, die aus militärischen Gründen besonders schützenswert sind.
OPLAN umfasst detaillierte Planungen für den Spannungsfall. Das könnte ein russisches Manöver an der Ostflanke der Nato sein. Aus so einer Konstellation ist im Februar 2022 ein Angriff auf die Ukraine entstanden. Deutschland würde dann zur Drehscheibe für Zehntausende, womöglich Hunderttausende Soldaten, die nach Osten transportiert werden müssten, dazu Kriegsmaterial, Lebensmittel, Medikamente.
Dienststellen der Bundeswehr prüfen demnach auch, welche Vorhalteverträge mit Unternehmen geschlossen werden müssen, um die Versorgung mit Lebensmittel und Treibstoff auf dem Weg zum Einsatzort sicherzustellen.
Tatsächlich ist die Logistik schon heute eine Achillesferse der deutschen Wirtschaft. Der Fachverband der Transporteure (BGL) beklagt seit Jahren, dass 100.000 Fahrer fehlen. Aus Sicht der Bundeswehr ist nicht nur diese Lücke kritisch. Die Militärs raten den Unternehmen: „Bilden Sie mindestens auf 100 Mitarbeiter fünf zusätzliche LKW-Fahrer aus, die Sie nicht benötigen.“ Gut 70 Prozent aller Brummis auf deutschen Straßen würden von Osteuropäern bewegt. „Wenn dort Krieg ist, wo werden dann diese Leute sein?“

Der BGL bestätigt zwar auf Anfrage, stets im Austausch mit der Bundeswehr zu sein. An speziellen Vorbereitungen sei man aber nicht beteiligt. Das bedeutet: Im Notfall kann nur noch der Güter transportieren, der auch Fahrer in der Hinterhand hat. Zudem, so der Hinweis des Bundeswehrsprechers, müsse damit gerechnet werden, dass bei Krisen die Straßen von vielen Militärfahrzeugen belegt werden.
Experten wie Plischke warnen eindringlich, die Zuspitzung im Osten Europas nicht zu unterschätzen. Die friedlichen Zeiten seien längst vorbei. Nach Informationen der deutschen Nachrichtendienste sei Russland in vier bis fünf Jahren Willens und in der Lage, weiter nach Westen anzugreifen. Das Land habe längst auf Kriegswirtschaft umgestellt und investiere derzeit 75 Prozent des Bruttosozialproduktes in Rüstungsgüter. So würden derzeit monatlich 25 neue Kampfpanzer gefertigt. In Deutschland seien es nur drei.
Bereitet sich Russland aktiv auf einen weiteren Krieg vor?
Aus Sicht der Militärs sind Propaganda, Drohnenüberflüge, Waffenlagerfunde, Attentatsplanungen auf CEOs, Ausspähversuche, Sabotage, Cyberangriffe und zuletzt gekappte Seekabel als Zeichen zu werten, dass die Gegenseite längst zur Strategie „Shaping The Battlefield“ (Gestalte das Schlachtfeld, Anm. d. Red.) übergegangen ist. Für die Bundeswehr steht also fest: Russland bereitet sich bereits aktiv auf einen Krieg vor.
Der regelmäßig aktualisierte OPLAN umfasst zwar auch den zivilen Unterstützungsbedarf der Streitkräfte durch Unternehmen der Privatwirtschaft. Doch dafür müssen die Betriebe wissen, was auf sie zukommt und welche Vorkehrungen sie treffen müssen. Allerdings gibt es bis heute dazu keine konkrete Anlaufstelle.
„Wir wollen bei der inneren Sicherheit nicht die Führungsrolle übernehmen“, betont der Bundeswehrsprecher in München. Dies sei Aufgabe der Innenministerien und deren nachgeordneten Behörden. Dazu zählt aus Sicht der Bundeswehr eine Verstärkung des Zivilschutzes. Der Rat an die Betriebe: Einen Mitarbeiter in den Heimatschutz entsenden. Das koste im Jahr wenige Tage, in der Krise bestehe so aber ein direkter Draht zu den Leuten, die das Umfeld schützen werden. Zudem solle man einen weiteren Beschäftigten bei THW und Feuerwehr unterbringen.
Mitarbeiter, die sich in diesen Bereichen engagieren, werden zunehmend in Großübungen eingebunden, bei denen das Zusammenspiel verschiedener Hilfskräfte auch grenzüberschreitend getestet wird. So waren Ende Oktober zwischen Karlsruhe und Mannheim Einheiten aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Österreich und Griechenland unter dem Titel „Magnitude“ an einem fiktiven Erdbebeneinsatz beteiligt. Die transnationale Kommunikation – beispielsweise mit dem militärisch aufgebauten Katastrophenschutz aus Frankreich – hat in diesem Fall die Bergwacht aus Freiburg koordiniert.

In Hamburg gab es kürzlich eine erste gemeinsame Übung von zivilen Kräften und der Bundeswehr. Unter dem Titel „Red Storm Alpha“ stand der Schutz von Kaianlagen im Hafen vor Ausspähversuchen und Sabotageakten im Mittelpunkt.
Aus Sicht der Bundeswehr sind solche Übungen wichtig. Wer sich kennt und vertraut, werde schneller und besser reagieren als jene, die erst Telefonnummer und Dienstweg finden müssen. Grundsätzlich sollten die Unternehmen ehrenamtliches Engagement in der Blaulichtfamilie und der Bundeswehr unterstützen, so Oberstleutnant Plischke.
Die Unternehmen sollten auch wissen, dass sie im Krisenfall mehr in die Gefahrenabwehr eingebunden werden können. Der OPLAN baut auf einem Rechtsrahmen auf, der aus Zeiten des Kalten Krieges stammt. Der Gesetzgeber öffnet öffentlichen Stellen rechtlich die Tür zu allen möglichen Eingriffen. Begrenzt werden diese Befugnisse im Wesentlichen nur durch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Notwendigkeit. Ein weites Feld also.