Herr Auch, Sie leiten die Arbeitsagentur Konstanz-Ravensburg seit knapp einem halben Jahr. Die Ausläufer der Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg, die Energiekrise: All diese Themen waren in der Zeit hochaktuell. Ist der hiesige Arbeitsmarkt dadurch ins Wanken geraten?

Nein. Trotz aller Widrigkeiten, die es gerade gibt, sehe ich das nicht: Im Bezirk liegt die Arbeitslosenquote aktuell bei 3,0 Prozent, in Konstanz bei 3,5 Prozent. Der Arbeitsmarkt ist stabil. Und auch das Thema Corona haben wir dort weitgehend hinter uns gelassen.

Dafür sind viele Arbeitgeber händeringend auf der Suche nach neuen Mitarbeitern. Wie viele Arbeitskräfte fehlen?

Das IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) hat berechnet, dass in Deutschland bis 2035 um etwa sieben Millionen Menschen weniger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wollten wir so weitermachen wie bisher, bräuchten wir im Jahr eine Netto-Zuwanderung von Fach- und Arbeitskräften von 400.000 Leuten.

Aber davon sind wir doch Lichtjahre entfernt, oder nicht?

Was ich dazu sagen kann: Wenn sich die Politik jetzt damit auseinandersetzt, wie wir die gezielte und gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften erleichtern, dann ist das sicher richtig und wichtig – und an der Zeit.

Weshalb?

Einzelne Aspekte bei der Arbeitsmigration funktionieren schon gut. Andere Punkte sind schwieriger. Dazu gehören die Anerkennungsverfahren von Berufen: Sie sind relativ komplex und ein Kernthema bei der Fachkräftezuwanderung in Deutschland.

Was meinen Sie damit konkret?

Denken Sie etwa an einen Fliesenleger aus Marokko. Selbst wenn er in seinem Heimatland ausgebildet wurde und schon seit 20 Jahren Fliesen verlegt, kann er nicht einfach zu uns kommen und als Fachkraft arbeiten, sondern zunächst höchstens als Fliesenleger-Helfer. Weil wir ihm, zugespitzt gesagt, unterstellen, dass er es nicht kann.

Eigentlich zählt Fliesenleger anders als Arzt zu den sogenannten nicht-reglementierten Berufen. Doch weil unser Mann aus einem Nicht-EU-Staat kommt, muss er erst ein Anerkennungsverfahren durchlaufen. Ein Fliesenleger aus Portugal hingegen könnte sofort loslegen. Wenn sich jetzt die Ampel vornimmt, dieses Thema unbürokratisch und anders zu regeln, dann wird uns das sicher helfen. Vorausgesetzt, wir haben auch Menschen, die zu uns kommen wollen.

Mathias Auch (links), Leiter Agentur für Arbeit Bezirk Konstanz-Ravensburg, im Gespräch mit Walther Rosenberger (rechts), Catharina ...
Mathias Auch (links), Leiter Agentur für Arbeit Bezirk Konstanz-Ravensburg, im Gespräch mit Walther Rosenberger (rechts), Catharina Schulz und Stefan Lutz. | Bild: Oliver Hanser

Wie unterstützt die Arbeitsagentur Arbeitgeber dabei, ausländische Fachkräfte zu gewinnen?

Zum Beispiel mit dem Programm „Triple Win“. Dabei werden gezielt Fachkräfte etwa für die Kranken- und Altenpflege angeworben. Das spielt sich in bestimmten Ländern ab, in denen es sogar einen Fachkräfteüberschuss gibt, wie den Philippinen. Die potenziellen Arbeitskräfte bekommen auf den Philippinen schon ihren ersten Deutschkurs.

Sobald sie Deutsch können, kommen sie zu uns und die Arbeitgeber verpflichten sich, sie einzustellen. Wir betreiben in den Ziel-Ländern keinen Raubbau, die Arbeitnehmer beteiligen sich und unsere Unternehmen profitieren.

Nun schlummert aber nicht nur im Ausland, sondern auch vor Ort einiges an Potenzial …

Absolut. In meinem Bezirk gibt es knapp 330.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. 30 Prozent davon arbeiten in Teilzeit. 80 Prozent dieser Teilzeitkräfte sind Frauen. Und die haben einen durchschnittlichen Arbeitszeitanteil von unter 20 Stunden pro Woche. Man muss kein großer Mathematiker sein, um zu wissen: Da steckt rein rechnerisch ein Potenzial. Sicher gibt es darunter eine Reihe von Menschen, die gerne mehr arbeiten würden, wenn die Betreuungssituation, Mobilität oder familiäre Umstände anders wären.

Es sind aber auch immer noch nicht alle Arbeitgeber bereit, mehr Teilzeitkräfte anzustellen, wenn sie ihre Stellen nicht mit Vollzeitkräften besetzt kriegen. Klar, das ist für Arbeitgeber nicht immer leicht, wenn sich zwei oder drei Leute eine Stelle teilen, und in manchen Bereichen ist es auch nicht machbar. Aber wenn zum Beispiel wir als Arbeitgeber Arbeitsagentur es gar nicht täten, hätten wir ein deutlich größeres Problem.

Nicht nur dort, aber auch auf dem Bau macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar.
Nicht nur dort, aber auch auf dem Bau macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar. | Bild: Monika Skolimowska/dpa

Das Thema Qualifizierung spielt für Sie beim Thema Fachkräftemangel eine große Rolle. Was steckt dahinter?

Im November waren knapp 8000 Stellen in unserem Agenturbezirk unbesetzt. 13.500 Menschen waren arbeitslos. Ich höre dann oft: Es kann doch alles nicht so schwierig sein. Ist es aber. Denn von den 8000 Stellen eignen sich nur knapp 2000 für Menschen, die keine Berufsausbildung haben. Doch unter den Arbeitslosen sind fast 6000 gering Qualifizierte, also oft ohne jede Ausbildung.

Da liegt das Problem: Wer sich gegen eine Ausbildung oder auch eine Teilzeit-Ausbildung oder zumindest eine Teilqualifikation entscheidet, tut sich immer schwerer dabei, in den Arbeitsmarkt einzutreten.

Welche Qualifikationsmaßnahmen bietet die Bundesagentur für Arbeit?

Wir unterstützen sowohl Arbeitslose als auch Beschäftigte. In Singen gibt es zum Beispiel den Brückenkurs, den die Agentur und das Jobcenter finanzieren. Ein tolles Projekt! Dabei sollen insbesondere Frauen, die in der Flüchtlingswelle 2015/16 gekommen sind, so vorqualifiziert werden, dass sie eine Erzieherinnen-Ausbildung bei uns machen können.

Auf der anderen Seite können Arbeitgeber Förderungen für die Qualifizierung von Beschäftigten erhalten. Das betrifft nicht nur gering qualifizierte Beschäftigte, sondern zum Beispiel auch Fachkräfte, die von einer Transformation betroffen sind, weil ihre Arbeit zunehmend digitalisiert wird. Sie sollen auch in Zukunft fit für den Arbeitsmarkt bleiben. Die Qualifizierung oder auch die Entgeltfortzahlung können wir in vielen Fällen finanzieren. Es ist oft einfacher, einen vorhandenen Helfer weiter- oder eine vorhandene Fachkraft höher zu qualifizieren, als eine neue zu gewinnen.

Das neue Bürgergeld rückt das Thema Qualifikation bei Langzeitarbeitslosen in den Fokus. Ist das aus Ihrer Sicht richtig?

Ja. Wenn wir über inländische Potenziale für den Arbeitsmarkt sprechen, gehört dazu auch, den Langzeitarbeitslosen Chancen zu geben. Mit dem Bürgergeld fällt der sogenannte Vermittlungsvorrang weg. Das klingt sehr technisch, bedeutet aber streng genommen: Sobald ein Job da ist, muss die Person ihn auch annehmen. In Zeiten mit extrem vielen Arbeitslosen war das sicher angemessen.

Mit dem Wegfall des Vermittlungsvorrangs kann man sich jetzt überlegen: Welche Qualifizierung können wir machen? Was ist sinnvoll? Es gibt den Menschen dafür die Zeit und auch die Möglichkeiten. Ich finde das eine sehr gute Sache.

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Sie sagen auch, dass die Berufsberatung der Arbeitsagentur noch immer wichtig ist. Ernsthaft? Finden Jugendliche online nicht genug Informationen zu Ausbildung und Studium?

Doch, das ist mein Ernst. Anfang dieses Jahres wurde eine Bertelsmann-Studie veröffentlicht: Die Mehrheit der 14- bis 20-Jährigen sagt, sie fühlt sich schlecht aufgestellt in Sachen Berufsorientierung. Wir haben die gleiche Fragestellung Anfang des Jahres mit der Zukunftswerkstatt Leutkirch auf lokaler Ebene durchgespielt – mit gleichem Ergebnis. Das Smartphone ist nicht die Lösung für die Jugendlichen. Sie brauchen persönliche Ansprechpartner. Dabei stehen an erster Stelle die Eltern, an zweiter die Freunde und an dritter die Berufsberatung der Agentur für Arbeit.

In Innenstädten, den Industriegebieten, im Internet: Überall sehen wir seit Monaten die Flut an Schildern und Anzeigen, mit denen Auszubildende und Mitarbeiter gesucht werden. Wo sind denn alle hin?

Darauf gibt es nicht die eine Antwort. Ein Teil hat mit Corona zu tun, besonders in bestimmten Bereichen wie der Gastronomie, in denen viele Menschen in andere Branchen gegangen und nicht alle wieder zurückgekommen sind. Einige Betriebe haben über einen bestimmten Zeitraum weniger eingestellt. Gleichzeitig gab es die normale Fluktuation: Die Leute sind trotzdem in Rente gegangen oder haben den Betrieb verlassen. Auch die Demografie schlägt langsam durch.

Es wird auch so viel gesucht, weil die Konjunktur brummt. Die 8000 offenen Stellen, die ich vorhin erwähnt habe: Das sind so viele wie vor Corona – und 3000 mehr als 2012 um die Zeit. Die Beschäftigung ist explodiert: Wir haben fast 330.000 Beschäftigte im Bezirk, fast 50.000 mehr als vor zehn Jahren. Wenn Sie also fragen, wo denn alle hin sind, dann ist ein anderer Teil der Antwort: Die werden gebraucht!