Beim Sensorspezialisten Sick sind Gegenwart und Zukunft nur einen Schritt weit voneinander entfernt. Links in Halle C-Nord am Stammsitz des Mittelständlers im badischen Waldkirch surren Fertigungsmaschinen für Sensorteile im klassischen Fabrik-Stakkato. Der Boden ist beschichtet, um elektrostatische Entladungen zu vermeiden. Die Räume durchziehen überall Sicherheitslinien. Nur hin und wieder kontrollieren Mitarbeiter dort die komplexe Sensor-Produktion.
Gleich gegenüber beginnt eine andere Welt. Hier haben nicht Automatisierungsspezialisten das Sagen, sondern Tüftler. Hier beginnt der Start-up-Bereich von Sick. Es gibt einen Kicker und einen Billard-Tisch. Gesessen wird nicht auf Bürostühlen, sondern auf bunten Bällen oder Hockern aus Karton. Boden und Wände bestehen aus Pressspan-Platten, die sich an einem Ende der Halle zu einem kleinen Amphitheater emporwölben. Gerade präsentieren hier einige Mitarbeiter Neues zum Thema künstliche Intelligenz.
Ambidextrie oder Beidhändigkeit lautet das Erfolgsprinzip
„Wir sind beidhändig unterwegs“, sagt Sick-Chef Robert Bauer und lässt seinen Blick von links nach rechts schweifen. Links die alte Welt, rechts die neue. Bauer ist seit 15 Jahren Chef des 10.000 Mitarbeiter zählenden Schwarzwälder Familienunternehmens, das locker als Hidden-Champion durchgeht. Allein 4500 Beschäftigte arbeiten im Badischen.

Vor rund drei Jahren hat Bauer zusammen mit den Sick-Eignern den Beschluss gefasst, parallel zur herkömmlichen Firmenstruktur ein Start-up-Ökosystem im Unternehmen einzurichten. Dafür wurde eine ältere Produktionshalle teilweise freigeräumt und in eine „Brutstätte für Ideen“ verwandelt, wie der Manager es ausdrückt. Bauer hat 100 Mitarbeiter in der Grüblerbude zusammengezogen – 50 konnten sich aus dem Unternehmen bewerben, die andere Hälfte der Jobs wurde extern ausgeschrieben. Nach gut zwei Jahren haben sich daraus rund 15 Start-ups entwickelt, die an zukunftsweisenden Themen wie künstlicher Intelligenz, neuronalen Netzen und Deep Learning forschen.
Es gibt viele Wege, neue Ideen ins eigene Unternehmen zu bekommen. In der Serie zeigen wir auf, wie Firmen smart und flink werden.
Maschinelles Lernen schafft neue Anwendungen
Die Mitarbeiter sind hier frei. Businesspläne oder Zielvorgaben gibt es nicht. Ideen sollen der Treibsatz sein, der die Start-ups zum Fliegen bringt. An einer von ihnen arbeitet Nina Kadisch. Die 30-jährige Mathematikerin trainiert Sensoren so, dass sie die Maserung von Holz erkennen. Dabei nutzt sie Verfahren künstlicher Intelligenz. „Die Sensoren lernen durch Beispiele und werden immer besser“, sagt sie. Für Möbelbauer, die Platten aus verschiedenen Schichten zusammenleimen, ist so etwas enorm wichtig. Nur wenn die Holzplatten richtig angeordnet sind, ist das Endprodukt stabil, sagt Kadisch.

Sick-Chef Bauer steht neben der jungen Ingenieurin und hört ihr zu. Vor Jahren hat er einmal selbst in der Sick-Forschungsabteilung angefangen. „Wir haben erkannt, dass die Digitalisierung ganz neue Herausforderungen an unser Unternehmen stellt“, sagt Bauer. In den bestehenden Strukturen sei es schwer gewesen, das nötige Entwicklungstempo aufrechtzuerhalten.

Tatsächlich gilt Sensortechnik als Schlüssel für fast alle Zukunftsbereiche – vom autonomen Fahren über den Gesundheitsmarkt bis hin zu moderner Fabrikproduktion. Der Industriekonzern Bosch schätzte schon vor einigen Jahren, dass die Zahl der mit dem Internet verbundenen Dinge bis Ende dieses Jahres 20 Milliarden Gegenstände überschreiten werde. Alle davon sammeln Daten und werten sie aus. Auf diese Entwicklung mussten wir reagieren, sagt der Sick-Chef. Seither ist das Schwarzwälder Unternehmen zweigleisig unterwegs – als klassischer Fabrikausrüster, der Zehntausende Kunden weltweit mit Lichtschranken, Tastern, Lasern und Sensoren für ihre Fertigungsstraßen versorgt und als Gründerunternehmen, das technologische Trends aufspürt und in marktfähige Produkte umsetzt. Ambidextrie – Beidhändigkeit – nennen Organisationssoziologen diese Form des Wirtschaftens. Sie wird immer dann nötig, wenn der technologische Wandel Bestehendes infrage stellt und disruptiv wird wie jetzt gerade. Neue Wege sind dann unumgänglich.
200 Millionen Euro für die Forschung
Das Problem: Noch zu wenige Firmen gehen sie. Eine aktuelle Umfrage der Hochschule WHU hat ergeben, dass nur ein einstelliger Prozentsatz deutscher Familienunternehmen und Mittelständler digitale Zukunftstechnologien wie KI oder Blockchain nutzt. Nicht einmal ein Fünftel von ihnen setzt auf Industrie 4.0, also auf die Vernetzung von Gegenständen mit dem Internet.
Sick-Chef Bauer weiß auch, warum das so ist. Ein Grund sei, dass „die Eigner deutlich mehr investieren und zunächst einmal auch auf Gewinn verzichten müssen“, sagt er. Bei Sick haben sich die Ausgaben für Forschung und Entwicklung durch die neue Strategie der Beidhändigkeit von zehn auf zwölf Prozent am Jahresumsatz erhöht. 202 Millionen Euro hat das Unternehmen im Jahr 2019 in die Forschung gesteckt, bei einem Umsatz von 1,75 Milliarden Euro. Innerhalb eines halben Jahrzehnts hat das Unternehmen seine Forschungsausgaben damit um fast 60 Prozent nach oben gefahren.

Der Kurs scheint sich dennoch auszuzahlen. „Unsere Start-ups sind schneller vorangekommen, als wir dachten“, sagt Bauer. Erste Anwendungen seien bereits im Markt. Besonders stolz ist er auf Sensoren, die Pakete auf den Förderbändern von Logistikfirmen wie Amazon eindeutig erkennen und so Fehler beim Sortieren der Waren ausschließen. Mit jedem gescannten Paket lernen die Lidar-Scanner hinzu und optimieren ihre eigene Wahrnehmung. Einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag werden die Jung-Unternehmen mit derartigen Ideen 2020 zum Konzernumsatz beitragen, heißt es von Sick. Angesichts der Konzernerlöse sei das zwar noch wenig, sagt Bauer. „Ich sehe da aber eine große Dynamik.“