Die deutsche Wirtschaft steht am Scheideweg. Wird es ihr gelingen, bei Zukunftstechnologien wie der Digitalisierung, neuen Antrieben, dem autonomem Fahren oder erneuerbaren Energien Anschluss zu gewinnen, oder gerät sie im Vergleich zu den USA und Asien weiter ins Hintertreffen? Verblasst der Stern des einstigen Exportweltmeisters Deutschlands und seiner meist mittelständischen Firmen?
Besonders für das industriestarke Baden-Württemberg hängt von dem Ausgang dieser Fragen viel ab. Allein zwischen Schwarzwald, Alb und Bodensee haben rund 350 Automobilzulieferer mit rund 190.000 Beschäftigten ihren Sitz. Deren Geschäft hängt stark am Verbrennungsmotor, einer Technologie, die nach Ansicht von Experten ausgereizt ist und schnell an Bedeutung verlieren wird. Was aber wird aus den Betrieben, wenn Daimler, wie angekündigt, keine neuen Verbrennungsmotoren mehr entwickelt? Welche Jobs werden auf den Prüfstand gestellt, wenn der Zulieferriese ZF, wie jüngst verlautete, nur noch Elektro-Komponenten entwickelt und keine konventionellen Getriebe mehr?
Braucht man bald noch Banken und Reisbüros?
Was wird aus Banken, Reisebüros und Einzelhändlern, wenn immer mehr Bürger ihre Geschäfte im Internet abwickeln? Braucht man in Zukunft überhaupt noch Filialen mit Immobilienmaklern oder Versicherungsvertretern, wenn sich jeder in Zukunft die nötigen Informationen mit ein paar Klicks im Netz selber holen kann?

„Wir sehen, dass in einer ganzen Reihe von Branchen ehemals lukrative Geschäftsfelder massiv an Bedeutung verlieren und durch neue Technologien ersetzt werden, sagt Guido Baltes, Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Strategische Innovation und Technologiemanagement (IST) der Hochschule Konstanz.

Für die betroffenen Firmen sei es existenziell wichtig, zügig in die neuen Geschäftsfelder hineinzuwachsen. Parallel dürfe aber das alte Geschäft nicht vernachlässigt werden. Immerhin brächte dies in einer Übergangszeit noch die Gewinne, mit denen die neuen Technologien finanziert werden könnten.
Mittelstand im Hintertreffen
Ambidextrie oder auf deutsch: Beidhändigkeit, nennt der Innovations-Professor, die neue Managementaufgabe, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen – also zum einen in den bestehenden Strukturen hocheffizient zu wirtschaften und zum anderen mit agilen Mitarbeiter-Teams flexibel auf Neuerungen zu reagieren. Am Ende – so die Theorie – stehen zwei durchschlagskräftige Geschäftsfelder – ähnlich den beiden Spinat-gestärkten Unterarmen des knurrigen Comic-Helden Popeye.

Speziell der Mittelstand – so viel ist klar – hat damit aber seine liebe Not. 2018 schlug eine Expertenkommission des Bundes Alarm. Der Anteil der deutschen Firmen, die neue Produkte oder Prozesse erfolgreich einführten, sei seit 1999 von 56 auf 35 Prozent zurückgegangen. Und eine Bertelsmann-Studie kam jüngst zu dem Schluss, dass nur ein Viertel der deutschen Industriefirmen innovativ genug ist, um sich langfristig halten zu können. Besonders die Digitalisierung sei für die Betriebe oft ein zu dickes Brett, so die Bertelsmann-Experten.
IST-Direktor Baltes, der auch in den USA und in Asien geforscht hat, sagt, Transformationsprozesse in der deutschen Firmenlandschaft anzustoßen, sei besonders herausfordernd. Oft bestünden hiesige Firmen seit vielen Jahrzehnten und seien „um die Idee des Gründers herumgebaut“. Mit viel Akribie und Ingenieurskunst sei dessen Produktidee bis heute derart perfektioniert worden, dass sich die Betriebe zum Weltmarktführer in der Nische entwickelt hätten. Ein zweischneidiges Schwert, denn durch die hohe Spezialisierung, könnten „Hürden für die Umsetzung von Ambidextrie entstehen“. Das mache Veränderungen schwer, sagt Baltes.

Die USA seien aufgrund ihrer ganz anderen Tradition im Vorteil. „Hier ist das wirtschaftliche Leben mehr von Werden und Vergehen bestimmt“, sagt er. Ohne den Ballast von Jahrzehnten, falle den Unternehmen der Sprung in neue Produkt-Welten viel leichter.
Corona verstärkt alle Entwicklungen
Und Corona? Die Pandemie wirke wie ein „massiver Transformationsbeschleuniger“, sagt Baltes. Manchem Firmen-Chef werde erst jetzt bewusst, wie veränderungsfähig sein Unternehmen und die Mitarbeiter seien. Klar sei aber auch: Die Krise verstärke die Kluft zwischen zukunftsfähigen und abgehängten Firmen. Wer aus der Krise gestärkt hervorgehen wolle, müsse jetzt Innovation fördern.
Die Wirtschaftsredaktion des SÜDKURIER hat in den vergangenen Wochen mehrere Unternehmen besucht, die die Herausforderung dieser sprichwörtlichen, unternehmerischen Beidhändigkeit in unsicheren Zeiten annehmen und zu neuen Ufern aufbrechen. Im Wochentakt stellen wir den Lesern diese Firmen aus dem Süden Baden-Württembergs vor.