Über zu wenig Arbeit kann sich Karsten Timmerherm nicht beklagen. Gerade steckt ein Kunde seinen Kopf durch das halb geöffnete Bürofenster der Michelsen-Werft in Friedrichshafen. Was mit dem defekten Motorbauteil sei, will er wissen. „Kriegen wir nicht mehr her“, sagt Timmerherm leicht verlegen. „Wir müssen alles austauschen. Kostet zwei-eins“. Als dem Kunden die Kinnlade herunterfällt, schiebt er nach: „Aber ich schau mal, ob der Mechaniker doch noch was retten kann.“

Ein paar Sekunden später klingelt das Telefon. Wieder ein Kunde, der Rat für die Reparatur seines Segelboots sucht. Und als Timmerherm aufgelegt hat, klopft der Azubi an und will wissen, welches Epoxidharz er zum Ausbessern eines Bootsrumpfs verwenden soll.

„Normal“, sagt der Bootsbauermeister gelassen. So geht das hier den ganzen Tag. „Es gibt einfach zu wenig Werften am Bodensee für all die Boote.“

Die Michelsen-Werft, die der 36-Jährige gebürtige Oberschwabe zusammen mit Co-Geschäftsführer Niklaus Waser leitet, ist einer der wenigen verbliebenen Betriebe. Sie kümmern sich vornehmlich darum, dass die 22.000 Segelboote auf Deutschlands größtem Binnengewässer immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel haben.

Dabei ist die 1921 gegründete Michelsen-Werft so etwas wie die Hüterin der maritimen Geschichte des Sees und ihrer Skipper. Die Werft, deren in die Jahre gekommene Gebäude und Hallen von außen nicht vermuten lassen, dass innen an wahren Preziosen gearbeitet wird, ist spezialisiert auf Holzboote. Die Modelle, die in Friedrichshafen von rund einem Dutzend Mitarbeitern restauriert und teilweise auch nach alten Formen neu gebaut werden, sind allesamt Klassiker.

Boote mit Geschichte

So wie das offene L-Boot, für das Michelsen bekannt ist. Ein langgestrecktes Kielboot, das seine Blütezeit in den goldenen Zwanzigern hatte und damals als Regatta-Renner Erfolge auf den deutschen Binnenseen einfuhr. Oder die aus Skandinavien stammenden Oldtimer-Schärenkreuzer, die heute Prestigeobjekte darstellen und in Top-Zustand so teuer sind wie ein Porsche. „Das sind tolle Boote, und oft haben sie eine tolle Geschichte“, sagt Timmerherm.

Das Steuerrad der „Altenrhein“.
Das Steuerrad der „Altenrhein“. | Bild: Walther Rosenberger

So wie die „Altenrhein“, die gerade bei Timmerherm in der Halle steht. Der motorgetriebene Schlepper, zehn Meter lang und komplett aus Holz, schipperte Ende der 1920er-Jahre Dornier-Mitarbeiter ins Schweizerische Altenrhein, wo die Do-X, das damals größte Flugzeug der Welt, gebaut wurde. Als 1929 der Jungfernflug anstand, zogen die „Altenrhein“ und ihr heute verschollenes Schwesterschiff, die „Manzell“, das Riesenflugboot hinaus auf den See. Mit an Bord war der legendäre Flugzeugkonstrukteur Claude Dornier, der Schöpfer der Do-X.

8000 Stunden Arbeit an der „Altenrhein“

Heute steht die „Altenrhein“ nach einer Odyssee durch Deutschland und Frankreich bei Timmerherm in der Werft. Knapp 8000 Stunden haben er und seine Bootsbauer investiert, um den wieder in Besitz der Familie Dornier befindlichen Schlepper zu restaurieren.

Gleich daneben duckt sich eine weitere Preziose in der Halle – die „Argo“, ein 75er-Schärenreuzer und mit 18 Metern Länge eines der größten klassischen Holzboote des Bodensees. Ein Verein, der auf Initiative der Pharmadynastie Vetter aus Ravensburg gegründet wurde, lässt das Schiff seit 2023 bei Michelsen restaurieren, um es zu einem Segelschulschiff für wenig betuchte, aber gleichwohl segelbegeisterte Kinder zu machen.

In der Halle der Michelsen-Werft in Friedrichshafen werden der Schärenkreuzer „Argo“ (links) und das Motorschiff „Altenrhein“ derzeit ...
In der Halle der Michelsen-Werft in Friedrichshafen werden der Schärenkreuzer „Argo“ (links) und das Motorschiff „Altenrhein“ derzeit aufwendig restauriert. | Bild: Walther Rosenberger

Es sind Aufträge wie diese, mit denen die Michelsen-Werft ihr Geld verdient. Der Neubau von Booten spielt bei den Friedrichshafenern, genau wie bei den übrigen Sportbootwerften am Bodensee, eine untergeordnete Rolle. Die Neuware von der Stange kommt aus Großwerften in Polen, Frankreich, Bayern oder Norddeutschland. Der Markt von Standard-Segelbooten bis 150.000 Euro sei aber eingebrochen, sagt Timmerherm, der auch Vorsitzender im Verband der Bodenseewerften ist. Normale Leute könnten sich neue Boote heute fast nicht mehr leisten.

Tatsächlich werden die deutschen Werften aktuell zum Opfer ihrer eigenen Geschäftspolitik in den vergangenen Jahren. Während der Corona-Jahre boomte der Markt der Sportboote, weil Freizeitaktivitäten draußen viel attraktiver wurden. Neueinsteiger – vor allem bei Luxus- und Motoryachten – trieben die Verkaufszahlen in die Höhe. Parallel drehten die Werften satt an der Preisschraube.

Blick in die Werkhalle der Werft. Im Vordergrund ein klassischer Mast.
Blick in die Werkhalle der Werft. Im Vordergrund ein klassischer Mast. | Bild: Walther Rosenberger

Mittlerweile schlägt das Pendel zurück. Der Markt ist übersättigt. Und die Gebrauchtbootsmärkte quellen über, weil viele Neueinsteiger die Lust verloren haben und mit ihrem jungen Gebrauchtboot noch schnell Kasse machen wollen. Die Auslastung der großen deutschen Sportbootwerften sinkt seit einigen Monaten im Rekordtempo. Beim Bundesverband der Wassersportwirtschaft (BVWW) spricht man von einer „verheerenden Branchenkonjunktur“. In allen Segmenten sei die Nachfrage drastisch zurückgegangen.

Timmerherms und seine Spezialitäten-Werft bekommen die Probleme der Gesamtbranche nur am Rande zu spüren. Nicht mehr jedes Jahr wird jetzt ein neues Boot bei Michelsen in Friedrichshafen gebaut. Dafür würden umso mehr repariert, restauriert und gewartet, sagt der 36-jährige begeisterte Segler. Sein Betrieb wachse, trotz Krise.

Alles neu gemacht: Bootsbauer Karsten Timmerherm beugt sich über Spannten der „Argo“.
Alles neu gemacht: Bootsbauer Karsten Timmerherm beugt sich über Spannten der „Argo“. | Bild: Walther Rosenberger

Eine Voraussetzung dafür war die Übernahme der Überlinger Keller-Werft im Jahr 2021. Der Traditionsbetrieb fungiert seither als Außenstelle der Friedrichshafener Stammwerft mit eigenem Bootsbau. Mehrere Hunderttausend Euro seien seit der Übernahme in den Betrieb investiert worden, sagt Co-Geschäftsführer Niklaus Waser.

Waser ist der Mann hinter der Expansionsstrategie bei Michelsen. Nach zwei Jahrzehnten als Berater beim IT-Konzern IBM und einigen Jahren als Digitalverantwortlicher beim Truckbauer MAN hat sich der diplomierte Maschinenbauer aus dem Berufsleben verabschiedet und am Bodensee niedergelassen. Als „Privatier und Investor“ geht er seitdem seinem langjährigen Traum nach. „Ich wollte immer schon eine Werft besitzen, bevor ich in Rente gehe“, sagt er.

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Timmerherm, mit dem er jetzt die Werftbetriebe in Friedrichshafen und Überlingen führt, kennt er seit den Nullerjahren. Damals werkelten sie zusammen an einem alten Holzboot, das in der Michelsen-Werft auf Vordermann gebracht wurde. Heute ist Waser der Mann für die Zahlen und Timmerherm derjenige mit dem besonderen Gespür fürs Holz und die Boote.

Die Arbeitsteilung scheint sich bislang auszuzahlen. Die Zahl der Beschäftigten in beiden Werftbetrieben soll Ende des Jahres die 30er-Marke überschreiten. Die Bücher sind voll. „Wirtschaftlich läuft es“, sagt Timmerherm. Dann klingelt schon wieder das Telefon. Er muss weg. Ein Kunde ist dran.