Frau Professor Michels, man liest in Anzeigen oder Heften, die beim Apotheker ausliegen, dass diese oder jene Erkrankung die „neue Volkskrankheit“ sei – etwa Krampfadern, Hämorrhoiden oder Osteoporose. Wird der Begriff „Volkskrankheit“ missbraucht und müssen die Leute vorsichtig sein?

Der Begriff „Volkskrankheit„ ist nicht klar definiert. So behauptet Wikipedia etwa, es handelt sich um keine seuchenartigen Krankheiten. Dem kann ich nicht zustimmen. Übergewicht und Diabetes sind ja nichts anderes als Epidemien. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs könnte man als Epidemie bezeichnen. Es gibt also keine Übereinstimmung darüber, was genau mit „Volkskrankheit„ gemeint ist. Es bleibt ein vager Begriff.

Die Freiburger Medizinerin Prof. Dr. Dr. Karin Michels
Die Freiburger Medizinerin Prof. Dr. Dr. Karin Michels | Bild: Universität Freiburg

Was halten Sie von Krönungszeremonien a la „Volkskrankheit des Jahres“? Im Jahr 2000 etwa machten Ärzte die Refluxerkrankung der Speiseröhre zur Volkskrankheit . . .

Da halte ich gar nichts davon. Eine Volkskrankheit ist eine Krankheit, die sehr häufig in der gesamten Bevölkerung auftritt und im Prinzip jeden gleichermaßen betreffen kann.

Sollte man nicht besser von Wohlstands- oder Zivilisationskrankheiten sprechen?

Bei einigen der sogenannten Volkskrankheiten ist das sicher sinnvoll. Aber es trifft nicht auf alle Krankheitsphänomene zu. Bei Depressionen handelt es sich ja nicht unbedingt um eine Zivilisationskrankheit, wobei die zunehmende Vereinzelung in der Gesellschaft der Depression Vorschub leistet. Was viele übersehen: Übergewicht etwa ist auch in Afrika ein großes Problem geworden, obwohl man dort nicht von Wohlstandsgesellschaften sprechen kann.

Fachleute kritisieren, dass die Forschung an Volkskrankheiten unterschiedlich gefördert wird. So erhielte Brustkrebs- und Diabetes-Forschung überproportional viel Unterstützung, Forschungen zu Depressionen und COPD dagegen wenig. Hängt das mit dem schlechteren „Image“ dieser Erkrankungen zusammen?

Das kann man so nicht sagen. Man muss genauer hinschauen. Der frühere US-Präsident Barack Obama hat ein großes Projekt zum Thema Hirngesundheit gefördert, in dem es neben Parkinson und Alzheimer auch um die Erforschung von Depressionen geht. Bei COPD etwa braucht es nicht viele Forschungsgelder, weil wir wissen, dass zumindest in Industrienationen zumeist Rauchen die Erkrankung hervorruft. Auch bei Diabetes sind die Gründe – nämlich in der Hauptsache falsche Ernährung und ein Mangel an Bewegung – gut bekannt, so dass auch hier eigentlich nicht viel Ursachenforschung betrieben werden müsste.

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Wie sieht es bei der Krebsforschung aus?

Da fließt zwar sehr viel Geld, etwa in die Brustkrebs-Forschung. Aber leider haben wir wenig vermeidbare Risikofaktoren für Brustkrebs gefunden. Die Früherkennung und die Therapie haben dafür deutliche Fortschritte gemacht und die Überlebensraten um einiges verbessert.

Das heißt: Geld allein führt in der Forschung nicht zum Erfolg?

Ja, in der Tat. Brustkrebs ist auch ein ganz schwieriges Feld, so wie Krebs überhaupt. Aber bei vielen sogenannten Volkskrankheiten liegen die Gründe auf der Hand und sie wären leicht zu bekämpfen. Fast 100 Prozent der Fälle von Übergewicht und Adipositas könnten durch eine Änderung des Lebensstils vermieden werden, weil die Faktoren bekannt sind. Das trifft auch für 90 Prozent der Diabetesfälle zu. Das Gleiche gilt für 80 Prozent der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Aber nur 50 Prozent der Krebsfälle könnten durch uns bislang bekannte Lebensstil-Änderungen vermieden werden.

Dass Tabakkonsum ungesund ist, wissen die Raucher. Doch von der Zigarette wegzukommen, braucht einen starken Willen.
Dass Tabakkonsum ungesund ist, wissen die Raucher. Doch von der Zigarette wegzukommen, braucht einen starken Willen. | Bild: Christoph Hardt / imago

. . . weil auch die genetischen Vorbelastungen hier greifen?

Nicht nur das. Wir kennen eben viele Ursachen für Krebs noch gar nicht. Da ist also noch Einiges zu erforschen, aber wir machen beim Krebs nicht die rapiden Fortschritte, die wir uns anfangs erhofft haben. Es gibt eben schwierige Problem zu lösen, die die Wissenschaft länger beschäftigen.

Welche Lebensstile sind es denn, die einen Körper leichter an einer sogenannten Volkskrankheit wie etwa Diabetes erkranken lassen?

Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben sehr ähnliche Ursachen, die in erster Linie Lebensstil-Faktoren sind. Die drei wichtigsten sind Rauchen, Bewegungsmangel und einseitige falsche und ungesunde Ernährung. Bei Diabetes sind der Zucker und die Weißmehle Hauptursachen. Man kann auch ohne Übergewicht daran erkranken, viele Patienten haben ein normales Gewicht. Aber Bewegungsmangel ist fast immer dabei.

Haben Vegetarier einen Vorteil und leben gesünder?

Prinzipiell ja, aber nicht unbedingt. Man kann sich auch als Vegetarier ungesund ernähren. Vermehrter Genuss von durchaus Vegetarischem wie Keksen und vielen Backwaren ist nicht zuträglich, da oft neben dem Zucker und Weißmehl auch die sogenannten schlechten Fette enthalten sind. Das sind die künstlichen gehärteten (oder Trans-) Fette wie sie etwa in vielen Keksen oder Plätzchen enthalten sind. Im Prinzip gilt, je knuspriger der Keks, je mehr gehärtete Fette. Dafür sorgen diese Fette. So haben wir festgestellt, dass Kekse und Plätzchen zu den wichtigsten Risikofaktoren für einen Herzinfarkt gehören.

Kekse aus dem Supermarkt enthalten oft künstlich gehärtete Fette, die zwar knusprig machen, allerdings auch ein Krebsrisiko darstellen ...
Kekse aus dem Supermarkt enthalten oft künstlich gehärtete Fette, die zwar knusprig machen, allerdings auch ein Krebsrisiko darstellen können. | Bild: ©gitusik - stock.adobe.com

Dann sollte man sich in der Weihnachtszeit ja zurückhalten . . .

Natürlich, es sei denn man greift zu reinen Butterplätzchen, weil sie kein künstlich gehärtetes Fett enthalten. Das steckt auch in der Schokoladenschicht bei Keksen, denn der Kakao muss ja hart sein. Ähnlich ist es bei Pommes frites, die ja auch knusprig sein sollen. Beim Frittieren kommen ebenfalls gehärtete Fette zum Einsatz, die Erkrankungen Vorschub leisten.

Die Begleit- und Folgeerkrankungen von Volkskrankheiten verursachen für die Gesellschaft hohe Kosten. Sind wir bei Aufklärung und Prävention schon da, wo wir hinwollen?

Davon sind wir leider noch weit entfernt. Der Fokus medizinischer Arbeit liegt bei der Behandlung. Mehr Fokus auf der Prävention käme aber sowohl der Erhaltung der Gesundheit als auch unserem Gesundheitssystem zugute. Wir könnten Milliarden sparen, wenn wir in Deutschland mehr Geld für die Gesundheitsvorsorge ausgeben würden.

Was steht dem entgegen?

Prävention ist schwierig zu verkaufen, denn die Menschen leiden ja erst während einer Erkrankung und nicht vorher. Das bremst die Bereitschaft, für Vorsorge mehr Geld aufzuwenden. Aber die Prävention muss vorangetrieben werden, sonst bricht unser Gesundheitssystem zusammen.

Warum ist es so dramatisch?

Die Folgeerkrankungen, die allein durch die Übergewichtswelle ausgelöst werden, könnten unser Gesundheitssystem ruinieren. Prävention ist zwar auch mit Kosten verbunden, aber die sind wesentlich niedriger als die, die durch die spätere Behandlung der Krankheiten entstehen. Die alten Chinesen haben die Prävention sehr konsequent betrieben: Da wurden die Ärzte nur bezahlt, wenn niemand krank war.