Herr Esch, vor Ihrem Medizin-Studium haben Sie auf einer Krebsstation gearbeitet. Was war Ihnen dort aufgefallen?
Mir war aufgefallen, dass Menschen, die auf dem Papier rein medizinisch sehr ähnliche Diagnosen hatten, auch solche, die nicht mehr heilbar waren, die gleich alt und in einer vergleichbaren Situation waren, doch auch sehr unterschiedlich mit ihrer Erkrankung umgingen. Es schien, als ob das in der Medizin kaum Bedeutung besaß, zum Beispiel die Frage, ob ein Patient nach der Visite weinte, verzweifelt war oder aber, ob sich sein Kämpferherz zeigte oder er schlichtweg seinen Frieden mit den Umständen machen konnte. Ich war jedoch überzeugt, dass es auch medizinisch gesehen nicht egal war, wie ein Patient eine Therapie annimmt.
Warum gelingt es manchen Menschen besser, mit solchen gesundheitlichen Krisen umzugehen als anderen?
Diese Menschen haben beispielsweise ein höheres Kohärenzgefühl, das heißt, sie leben ihr Leben und stellen alles, was ihnen passiert, in einen größeren Sinnzusammenhang. Menschen, die in solchen Situationen besser klarkommen, geben sich nicht ohnmächtig der Medizin hin, sondern versuchen, sich an den Prozessen zu beteiligen. Große Studien haben gezeigt, dass sich eine optimistische Lebenshaltung positiv auswirken kann. Menschen, die das tun, haben statistisch gesehen eine höhere Lebenserwartung und eine geringere Erkrankungshäufigkeit auch in Bezug auf Herz-/Kreislauferkrankungen.
Welche dieser Fähigkeiten sind erlernt und welche ererbt?
Studien zeigen, dass 40 bis 50 Prozent dieser Fähigkeiten angeboren sind, wie zum Beispiel die Dichte der Rezeptoren im Belohnungssystem des Gehirns, oder wie schnell bestimmte Enzyme gebildet werden. Nicht unerheblich ist auch, wie liebevoll das Umfeld ist, in dem man aufwächst. All das zusammen macht je nach Studie 50 bis 60 Prozent aus. Aber zwischen 30 und 50 Prozent dieser Fähigkeiten sind erlernbar. Viele prominente Psychologen arbeiten mit der „Positiven Psychologie“. Dabei geht es um die Idee, statt in schwierigen Situationen nur das Negative zu sehen, bewusst gegenzusteuern und etwa Dankbarkeit zu üben, Glücksmomente zu sammeln oder ein Tagebuch zu führen.
Klingt etwas esoterisch...
Das klingt vielleicht so, ist es aber nicht. So hat der Amerikaner James Pennebaker gezeigt, dass es durch solche Verhaltensweisen zu positiven Verschiebungen im Immunsystem kommen kann und die zelluläre Abwehr gestärkt wird. Kurzum, das ist kein Hokus-Pokus, dahinter stecken harte Daten.
Der US-Kardiologe Herbert Benson hat ab den 80er-Jahren die Ursachen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersucht. Er forschte an buddhistischen Mönchen in Tibet, die allein durch die Kraft ihrer Gedanken nasskalte Tücher zum Trocknen bringen konnten. Welche Prozesse laufen dabei ab?
Damals war anerkannter Stand der Forschung, dass familiäre Veranlagung oder einfach der Zufall Auslöser für Bluthochdruck, koronare Herzerkrankungen und Herzinfarkte sein sollten. In jedem Fall aber glaubte man nicht, dass man willkürlich und unmittelbar darauf einen Einfluss haben konnte. Benson, der selbst Harvard-Mediziner und nüchterner Wissenschaftler war und noch nie meditiert hatte und es auch später als Forscher nicht tat, um unabhängig zu bleiben, fand heraus, dass es einen natürlichen Gegenspieler zur Stressreaktion gibt, nämlich das, was er dann Entspannungsreaktion nannte. Seine Untersuchungen bestätigen erstmals wissenschaftlich, wozu Meditation imstande ist: Es ist möglich, allein durch die Kraft unserer Gedanken eine Entspannungsreaktion im Körper auszulösen, und das bedeutet, dass die körpereigene gesunde Antwort auf Stress durch unseren Willen beeinflussbar ist.
Welcher Mechanismus steckt hier dahinter?
Wir konnten in Bensons Forschergruppe, zu der ich auch gehörte, Botenstoffe nachweisen, die in dieser Entspannungsphase ausgeschüttet werden. Wenn das passiert, sinkt der Blutdruck, die Durchblutung der Hände und Füße wird gesteigert, und damit wird das Volumen, in dem sich das Blut verteilen kann, größer. Bei den Mönchen waren das innerhalb kürzester Zeit auch mehrere Grad Temperaturunterschied. Wir wissen heute, dass, wer sich als selbstwirksam erlebt, Areale im Gehirn aktiviert, die auch bei der Achtsamkeitsmeditation aktiviert werden.
Sie bezeichnen die Selbstheilung als ein in uns selbst angelegtes Potenzial, das uns immer wieder zur Gesundheit zurückkehren lässt. Doch Stress, sagen Sie, sei ein großer Saboteur dieser Selbstheilung. Wie lerne ich, mit Stress umzugehen?
Das Wichtigste ist, den Stress wahrzunehmen. Meistens merken wir erst abends, wie fertig wir sind und dass wir Kopfschmerzen haben. Entscheidend ist, den Stress in der aktuellen Situation wahrzunehmen, wie bei einem unangenehmen Gespräch, eventuell mit dem Chef. Das heißt, ich nutze diese Stresssituation als Warnsignal, beobachte mich und versuche aktiv, durch die Atmung gegenzusteuern. Gerade anfangs übermannt einen die Stressreaktion abends immer noch, doch dieser kurze Moment des Innehaltens gibt vielen einen Vorgeschmack, dass sie irgendwann die Kontrolle zurückbekommen.
Was kann jemand tun, der chronisch gestresst ist?
Hier ist es wichtig, mindestens einmal am Tag eine innere Einkehr zu haben, also einen Termin mit sich selbst: Um von Kopf bis Fuß zu schauen, wo man Stresswarnsignale findet. Diese muss man sich manchmal physisch vor Augen führen, um sie zu finden: auf der körperlichen, muskulären oder gedanklichen Ebene. Man kann darauf achten, dass man sich wenigstens 30 Minuten am Tag bewegt, oder auch über die Ernährung gehen, den Genuss, die Achtsamkeit oder über Entspannung. Idealerweise macht man von allem ein bisschen.
Hat jemand Rückenschmerzen, müsste der Arzt ja erst einmal herausfinden, ob es sich um eine körperliche und/oder psychische Ursache handelt.
Die Idee ist, zu sagen, dass, obwohl ich Rückenschmerzen habe, ich auch selbst etwas tun kann. Im Übrigen lassen sich Geist und Körper gar nicht so leicht voneinander trennen. Möglicherweise reicht diese Selbstregulation aber nicht aus. Das heißt, ob die Ursache für den Rückenschmerz ein Bandscheibenvorfall ist oder Stress oder beides, zeigt, dass wir uns in einem System befinden, wo die Dinge parallel ablaufen. Und auch wenn der Arzt nach einem Befund im Kernspin sagt, dass man operieren muss, ist die Einstellung des Patienten wichtig: Ob er sich trotz der Einschränkung immer noch als gesund sehen kann, kann bedeuten, dass seine Lebensqualität auch trotz des Schmerzes ansteigt. Das kann bedeuten, dass sich die Symptomatik möglicherweise sogar verbessert.
Welche Entspannungstechniken empfehlen Sie?
Ob Sie es Yoga, Qigong, Tai-Chi nennen, autogenes Training oder progressive Muskelentspannung, ist an sich fast egal. Wichtig sind diese Momente, in denen ich mich darauf besinne, was gerade ist. Man kann dasitzen und nur Geräusche wahrnehmen oder ein Wort, eine Zahl oder einen kurzen Satz beim Ausatmen wiederholen. Oder auf dem Weg zur Arbeit nur auf seine Schritte achten.
Wie kann man sich entspannen?
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YogaIndische philosophische Lehre mit verschiedenen Ansätzen, die eher geistig und/oder körperlich orientiert sind. Körperhaltungen, Bewegungs- und Atemtechniken sollen vor allem zur Entspannung verhelfen. Ziel ist es, seine innere Seelenruhe, aber auch Gelassenheit zu finden.
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QigongMeditative Bewegungsform aus der traditionellen chinesischen Medizin, bringt Körper- und Atemübungen mit einer entspannten Konzentration zusammen. Nur wenn die Lebensenergie ungehindert durch den Körper fließt, ist man gesund. Qigong-Übungen sollen Blockaden lösen.
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Tai-ChiEine Art Schattenboxen, das sich aus der chinesischen Kampfkunst ableitet und zu innerer Harmonie führen soll. Bewusst gesteuertes Yang (Atem, Bewegung) soll zu Yin (innere Ruhe und gedankliche Leere) führen. Charakteristisch sind die zeitlupenartigen Bewegungen.
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Progressive Muskelentspannung
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Autogenes TrainingAutogenes Training beruht auf Autosuggestion. So stellt man sich beispielsweise intensiv Schwere und Wärme in den Armen und Beinen und einen inneren Ruhezustand vor. Das Verfahren wurde 1926 von dem Berliner Psychiater Johannes Heinrich Schultz erstmals vorgestellt. (ink)
Kann die Selbstheilung noch etwas ausrichten, wenn man schwer erkrankt ist?
Selbstheilung heißt, dass es immer etwas gibt, was man tun kann. Aber es heißt nicht, dass man für eine schwere Erkrankung auch noch selbst verantwortlich ist, weil man zu wenig Selbstheilung betrieben hat. Es geht um Potenziale, nicht um Schuld. Leider aber heißt Potenzial nicht immer Heilung, manches ist einfach Schicksal: Es geht um das Sowohl-als-auch, nicht um ein Entweder-oder.
Oft greifen Ärzte eher zum Rezeptblock, statt eine ausführliche Anamnese zu machen und Ratschläge zu geben.
Ja, das stimmt. Doch schon zu Zeiten des Hippokrates war die Selbstregulation Teil der Medizin. Manchen Ärzten ist das Verständnis und auch die Zeit dafür im Alltag verloren gegangen. Es ist einfacher und schneller, ein Rezept auszustellen, als den Patienten zu beraten, was er im Vorfeld tun kann, ehe ein Medikament überhaupt nötig ist.
Fragen: Birgit HofmannZur Person
Tobias Esch, 47, Arzt, Neurowissenschaftler und Gesundheitsforscher, untersucht seit vielen Jahren unter anderem an der Harvard Medical School, der State University of New York und an der Berliner Charité, wie Selbstheilung funktioniert und welche Prozesse dadurch im Körper ausgelöst werden. Seit 2016 lehrt Esch als Professor für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke. (ink)
Tobias Esch: „Der Selbstheilungscode – Die Neurobiologie von Gesundheit und Zufriedenheit“, Beltz-Verlag, 335 Seiten, 19,95 Euro