Herr Dr. La Rosée, die Diagnose Krebs löst ja immer große Ängste aus. Für viele Menschen bedeutet Krebs ein Todesurteil. Das ist aber nicht generell so, nicht wahr?
Heute kann man sagen, dass mehr als 50 Prozent der Patienten geheilt werden. Sie sind nach fünf Jahren noch immer krebsfrei. Bei den anderen ist es leider oft noch so, dass mit der Diagnose auch eine Verkürzung des Lebens verbunden ist. Aber da sind ganz viele darunter, bei denen man Krebs als chronische Krankheit begreifen kann, ähnlich wie bei einem Diabetiker, der lebenslang Insulin spritzen muss. Und so gibt es mehr und mehr solche, die wie durch Medikamente und bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit – Chirurg, Onkologe, Strahlentherapeut – behandeln können. So ist zum Beispiel eine medikamentöse Therapie bei Lebermetastasen denkbar, danach wird dann eine Metastase operiert, sodass der Patient wieder lange Zeit krebsfrei ist.
Viele Menschen haben vor der Chemotherapie große Angst. Was hat sich da verbessert?
Es gibt da vielfältige unterstützende Therapien. Da werden Medikamente gegeben, die Übelkeit oder trockene Schleimhäute bekämpfen, oder die die Erholung des Blutbildes unterstützen. Man gibt auch Mittel, die Infektionen bekämpfen, die unter Krebstherapien häufiger auftreten können.
Wie sieht es bei der Bestrahlung aus?
Auch bei der Bestrahlung hat sich viel getan. Es gibt heute technische Möglichkeiten, die Strahlen viel präziser in das Tumorgewebe zu lenken. So ist das auch beim Cyber-Knife, eine Bestrahlungstechnik, die so präzise wie das chirurgische Messer arbeitet. Bei der stereotaktischen Bestrahlung kann man die Streustrahlung reduzieren und möglichst tumorwirksame Dosen ins Tumorgewebe bringen und eben nicht in das gesunde Gehirn- oder Lungengewebe daneben. Bei der stereotaktischen Bestrahlung werden computergestützt sogar die Atembewegungen des Patienten mitberechnet, sodass nur der Tumor bestrahlt wird.
Das Cyber-Knife wurde zunächst für die Neurochirurgie entwickelt, also für Bestrahlungen im Gehirn. Wir setzen es aber auch dann ein, wenn man aus verschiedenen Gründen nicht operieren kann, etwa bei Leber-, Lungen- oder Knochenmetastasen. In ausgewählten Fällen brauchen wir die Protonen-Bestrahlung, dafür arbeiten wir dann mit den großen universitären Zentren zusammen.
Sind Männer immer noch weniger gesundheitsbewusst als Frauen?
Generell sind Männer von Krankheiten und Risiken häufiger betroffen als Frauen, und von der Prognose sind sie oft schlechter dran als Frauen. Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Männer sind nicht so gesundheitsbewusst, reden nicht gern über sich selbst und gehen seltener zur Vorsorge. Die Nikotinrisiken bei Männern sind enorm. Lungenkrebs und fortgeschrittener Lungenkrebs ist noch immer eine der häufigsten Erkrankungen bei Männern, auch wenn die Frauen hier leider aufholen.
Auch beim Darmkrebs sind Männer häufiger betroffen. Eine ausgewogene, ballaststoffreiche Ernährung ist weniger beliebt und die Früherkennungsuntersuchungen ebenso. Dazu kommen noch nicht hundertprozentig untersuchte biologische Faktoren. Manche Krebsarten sind eher bei Europäern zu finden, andere zum Beispiel eher bei Asiaten. Genetische Komponenten spielen eine Rolle, aber auch Lebensgewohnheiten.
Darmkrebs und Lungenkrebs sind Lebensstilkrebse. Da geht es um Ernährung, um Fleischkonsum, um Rauchen. 80 Prozent der Lungenkrebserkrankungen sind raucherabhängig. Da ist auch Alt-Kanzler Helmut Schmidt kein Gegenargument. Der Verzicht aufs Rauchen wäre eine enorme Krebsprävention.
Was gibt es denn Neues an Therapien bei Darm- und Lungenkrebs?
Bei Lungenkrebs gibt es einen großen Fortschritt bei der Gewebsentnahme für Biopsien. Die Tumoren sitzen ja oft tief in der Lunge, wo man nur schwer hinkommt. Die Liquid Biopsy (Flüssigbiopsie, d. Red.) ist im Prinzip eine Blutprobe, die bei bestimmten Lungenkrebsarten eine Gewebsprobe vorwegnehmen kann. Man findet Erbmerkmale aus dem Tumor im Blut und damit auch das genetisch veränderte Profil der Metastase. So lässt sich die Therapie besser steuern.
Bei der OP-Technik hat sich beim Darmkrebs die minimalinvasive Technik durchgesetzt. Die Verschränkung zwischen Bestrahlung und Chemo vor der OP ist inzwischen Standard. Diese Kombination ist bei manchen Patienten so gut wirksam, dass man manchmal sogar auf eine OP im Enddarm verzichten kann. Das ist wichtig, weil dort die Strukturen so eng sind, dass man dann ohne künstlichen Ausgang auskommen kann, wovor alle Patienten große Angst haben. Das wird mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, ist aber eine Einzelfall-Entscheidung. So etwas sollte immer interdisziplinär in spezialisierten Zentren besprochen werden.
Verbessert hat sich auch die OP-Fähigkeit von Metastasen. Lebermetastasen bei Darmkrebs galten früher als unheilbar. Wir arbeiten momentan so, dass wir die Chemotherapie vor der Operation intensiver machen, ergänzt mit biologischen Therapiesäulen, also Antikörpern, je nachdem wir das genetische Profil des Tumors aussieht. Damit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir die Patienten durch Metastasenoperationen tumorfrei bekommen, die im Anschluss stattfinden. Da wird sehr individuell entschieden. Darmkrebs ist nicht gleich Darmkrebs. Das biologische Profil des Tumors entscheidet, welches die beste Systemtherapie ist.
Das verlangt manchmal vom Patienten eine gewisse Geduld. Denn manchmal dauert die Gewebsanalyse eben zwei Wochen, bis wir genau wissen, welchen Typ wir vorliegen haben und wie wir den am besten behandeln. Das ist für Patienten oft recht abstrakt.
Der Patient möchte natürlich den Tumor am liebsten sofort weghaben.
Ja, und das ist auch menschlich verständlich. Aber manchmal ist es besser, erst mit Medikamenten oder Bestrahlung etwas dafür zu tun, dass der Chirurg danach besser operieren kann. Unser Problem ist, dass sich dieser intensive Gesprächsbedarf sich nicht immer in einer wirtschaftlich geführten Arztpraxis abbilden lässt, weil die Zeit dafür zu knapp ist. Es gibt aber bei der deutschen Krebsgesellschaft Patientenleitlinien für die großen Krebsarten. Ich empfehle, hier nach dem ersten Arztgespräch nachzulesen.
Welche Rolle spielt die Immuntherapie bei Darm- und Lungenkrebs?
Bei Lungenkrebs ist die Immuntherapie das große Thema, das die ganze Therapielandschaft verändert hat. Wir lernen auch hier, dass wir neben dem Tumorprofil jeden einzelnen Patienten anschauen müssen. Da geht es zum Beispiel darum, ob er bestimmte Ankerproteine hat. Hat er die nicht, muss der Nutzen der Immuntherapie kritisch geprüft werden. Antikörper regen das Immunsystem des Patienten an, selbst den Krebs zu bekämpfen. Manchmal ist das Immunsystem dann aber übermotiviert und es treten Nebenwirkungen auf. Das ist gerade ein großes Thema in onkologischen Zentren. Darüber müssen auch die Notaufnahmen Bescheid wissen. Die Prognose hat sich für sehr viele Patienten verbessert. Vor zwei Jahren dachten wir noch, wir erreichen für 25 Prozent der Lungenkrebs-Patienten ein echtes Langzeitüberleben. Jetzt sind wir schon so weit, dass sich bei manchen Patienten das Überleben verlängert von zwölf Monaten auf fünf Jahre. Wenn eine Therapie versagt, kann man die Krankheit wieder durch eine andere Therapie kontrollieren.
Bei Melanomen ist die Immuntherapie noch immer das Thema der Stunde?
So ist es, und zwar nicht nur allein, sondern in Kombination mit verschiedenen Immunansätzen. Wir sehen auch hier, dass etwa ein Drittel der Patienten mit Metastasen länger überlebt. Aber natürlich ist ein Drittel noch nicht genug. Auch hier ist es ganz wichtig, dass alle Fachdisziplinen gut zusammenarbeiten. Da muss dann eine bestimmte Metastase bestrahlt oder operiert werden, dann kann man wieder die Immuntherapie weitermachen. Viele Metastasen haben unterschiedliche biologische Profile. Wir sehen dann oft, dass die meisten Metastasen gut kontrolliert sind, aber zwei oder drei weiterwachsen. Früher hätten wir dann die ganze Therapie geändert. Heute schauen wir uns das Tumorprofil einzelner Metastasen an.
Welche Tipps gegen Krebs sind wichtig, abgesehen von den allgemein bekannten Hinweisen zu Ernährung, Sport und Entspannung?
Nehmen Sie die gesetzliche Früherkennung wahr, also die angebotenen Untersuchungen zu Gebärmutterhalskrebs, Brustkrebs, Hautkrebs Dickdarmkrebs, bei Risikofamilien auch früher, zu Hautkrebs, bei den Männern die Prostatakrebsvorsorge.
Die Amerikaner sprechen bei Krebsüberlebenden von „Survivorship“. Ehemalige Krebspatienten haben ein erhöhtes Risiko, noch einmal Krebs zu bekommen. Für sie gilt noch mehr als für alle anderen, einen gesunden Lebensstil zu pflegen und die Früherkennung wahrzunehmen.
Ich finde es wichtig, dass der Krebspatient offen mit seiner Erkrankung umgeht. Eine Therapie kann nicht gut funktionieren, wenn ein Mensch sich sozial zurückzieht. Es ist besser, wenn der Patient sein Umfeld und den Freundeskreis einschließt. Manchmal beobachte ich, dass Menschen sagen: Das muss niemand wissen, dass ich das habe. Oft kommen die Gedanken zum gesunden Lebensstil erst während der Erkrankung auf. Ich würde mir immer wünschen, dass wir alle das schon vor der Krebserkrankung tun würden. Wir haben wirklich viel in der Hand. Die Erkrankung sollte raus aus dieser gesellschaftlichen Tabuzone. Sie gehört zum Leben, wie alle anderen Krankheiten auch.
Zur Person
Dr. Paul Graf La Rosée, Jahrgang 1969, stammt aus Freising. Er studierte Medizin in Gießen und Heidelberg. Er ist Direktor der Klinik für Innere Medizin II: Onkologie, Hämatologie, Immunologie, Infektiologie und Palliativmedizin am Schwarzwald-Baar Klinikum und Sprecher des Onkologischen Zentrums/Onkologischen Schwerpunkts (OSP) Schwarzwald-Baar-Heuberg.