Herr Dr. Lucke, warum ist Brustkrebs bei Frauen die häufigste Krebsart? Und warum gibt es so große Unterschiede in den Fallzahlen zwischen Deutschland und zum Beispiel Indien?

Das wissen wir nicht. Aber weil bei uns eben so viele Frauen daran sterben, hat man sich immerhin überlegt, was man dagegen tun könnte und deshalb das Mammographie-Screening eingeführt. Für andere Krebsarten bei Frau und Mann gibt es kein Screening. Krebs ist ein multifaktorielles Geschehen; es spielen sehr viele Faktoren mit hinein. Man weiß, dass Ernährung eine Rolle spielt, aber auch die Genetik. Man vermutet, dass Umweltfaktoren eine Rolle spielen, wann die Frauen ihre Kinder bekommen, Genussmittel... Wenn eine Frau aus Indien auswandert und nach Deutschland kommt, wird sich ihr Risiko nicht sofort erhöhen – aber in zwei oder drei Generationen nähert sich das Risiko der Töchter und Enkelinnen dann dem der deutschen Frauen an. Genetik ist nicht alles, sondern auch der berühmte Lebensstil und die Umwelt.

Obwohl es sehr viel aggressivere Krebsarten gibt, die ihre Opfer sehr viel schneller töten wie etwa Bauchspeicheldrüsenkrebs, haben die meisten Frauen vor Brustkrebs am meisten Angst. Weil dieser Krebs auf ihre Weiblichkeit zielt?

Das hat schon damit zu tun, dass dieser Krebs so häufig ist. Man kann überall lesen, dass das Risiko in Europa bei 1:9 liegt, eine von neun Frauen wird also daran erkranken. Das ist keine kleine Zahl, und das ist real. Bei einem Krebs, der so häufig ist, hat jeder mindestens eine Betroffene im Freundeskreis und Bekanntenkreis. Da bekommt jeder mit, wie die Frauen körperlich und psychisch leiden. Bauchspeicheldrüsenkrebs erlebt man seltener. Rational muss man sich sagen: Jeder kann an jedem Tag etwas kriegen, ob es nun Krebs ist oder ein Herz-Kreislauf-Leiden. Dabei hat man selbst noch mehr in der Hand, etwas dagegen zu tun. Ob man Krebs individuell so beeinflussen kann, da habe ich meine Zweifel. Bei Herz-Kreislauf-Leiden hingegen schon! Man kann Übergewicht abbauen, sich beim Alkohol mäßigen...

Bei Brustkrebs haben sich ja die Überlebenszeiten sehr verbessert. Was hat sich denn bei Medikamenten und Therapien so getan?

Wenn man die letzten zehn Jahren anschaut, hat es den einen großen Wurf nicht gegeben. Das ist angesichts der Tumorbiologie aber auch nicht machbar. Wir haben aber eines gelernt, nämlich: Brustkrebs ist nicht gleich Brustkrebs. Es gibt biologisch sehr viele Varianten, die wir immer besser behandeln können, wenn wir auf diese Unterschiede eingehen. Jedes Jahr gab es bei den Medikamenten zwei, drei kleine Neuigkeiten, bei denen die Mediziner anfangs eher skeptisch waren. Aber bei zwei, drei Prozent Erfolg jedes Jahr macht Kleinvieh auch Mist! Wir stehen heute, was die Überlebensraten angeht, deutlich besser da als vor zehn Jahren. Wenn Brustkrebs in einem frühen Stadium entdeckt wird, sind heute nach fünf Jahren deutlich über 90 Prozent der Frauen dauerhaft heilbar!

Welche Rolle spielt die Immuntherapie?

Sie ist ein Baustein der individualisierten Therapie. Es gibt viele Muster, wie ein Krebs wächst. Man kommt immer mehr von standardisierten Behandlungen weg. Heute bekommen wir von den Pathologen eine Fülle von individuellen Daten, quasi ein Tumorprofil, auf das wir die Behandlung abstimmen. Immuntherapeutika kommen nur in Frage, wenn der Tumor das entsprechende Profil hat. Wenn er es hat, dann kann man es gut einsetzen. Für einen anderen Tumor, der das eine Profil nicht hat, haben wir wieder zwei andere Medikamente, die gut passen. Die Tumorprofile werden immer individueller und die Medikamente auch.

Wie ist der Stand bei den Gentests, die ja voraussagen sollen, ob eine Frau von einer Chemo profitiert? Der erste, Oncotype, soll ja in Kürze von den Kassen bezahlt werden...

Gentests, die das Risiko für eine Metastasierung abchecken, gibt es etwa seit zehn Jahren. Der Gentest kann nicht sagen, ob die Chemo wirksam sein wird; das ist leider ein Irrtum. Er prüft nur noch einmal detaillierter, ob Metastasen wahrscheinlich sind. Wenn das nicht der Fall ist, benötigt eine Frau auch keine Chemo. Chemos empfehlen wir aber schon bisher aufgrund von Erfahrung und einigen Parametern wie Lymphknotenbefall, Zellteilung und Aggressivität des Tumors. Die Gentests gehen von der genetischen Seite des Tumors an die Frage heran. Ich sehe in ihnen eher eine Ergänzung. Zum Teil arbeiten die Tests aber mit ähnlichen Kriterien wie bisher. Und dann ist ja immer die Frage: Sie müssen immer eine Grenze ziehen für Ja oder Nein. Wo setzen Sie die an? Ob die Tests die Entscheidungsalgorhythmen nachhaltig verändern, muss man sehen.

Wie schätzen Sie den Nutzen des Mammographie-Screenings ein? Kritiker sagen, dass dabei auch Tumore entdeckt werden, die der Frau niemals Probleme gemacht hätten. Dazu kommen falsch-positive Ergebnisse, die Frauen sehr ängstigen können....

Der auslösende Gedanke für das Screening war ja: Ein Brustkrebs ist umso besser zu behandeln, je früher er entdeckt wird. Wir können Brustkrebs nicht verhindern. Es ist mehr oder minder Schicksal, dass die eine Frau ihn kriegt und die andere nicht. Aber wir können den Verlauf dieser Erkrankung sehr günstig beeinflussen, wenn wir ihn nur früh genug entdecken. Daran gibt es keinen Zweifel.
Aber. Wir entdecken in manchen Fällen schon Vorstufen, bei denen die Veränderungen noch nicht einmal Krebs sind. Da stellt sich die Frage: Wie viele Frauen nehmen wir in Kauf, die unnötig behandelt werden, um bei einer anderen Frau einen echten Krebs möglichst früh zu finden, die dann vielleicht nicht mal eine Chemo braucht? Das ist ein Dilemma, das ist wahr.

Gesetzt den Fall, Sie hätten eine Schwester Mitte 50, die Sie fragt: Soll ich das Screening machen oder nicht – was würden Sie ihr raten?

Vom Grundansatz ist das Screening sicher eine gute Sache. Aber es gibt eben auch die Probleme im Detail, sonst gäbe es nicht die Diskussionen. Manche Kritiker sagen: Warum werden Frauen unter 50 nicht untersucht? Warum nicht Frauen über 70? Warum geht der Ultraschall nicht in das Screening mit ein, wie es andere Länder längst haben? Von den Zahlen her haben sich die Erwartungen, dass man damit schnell die Sterblichkeitsraten des Brustkrebs senken kann, nicht erfüllt. Wobei die Befürworter sagen: Das kommt daher, dass nur die Hälfte der eingeladenen Frauen auch teilnimmt. So ein Programm funktioniert nur dann, wenn möglichst viele mitmachen. Persönlich sehe ich das so: Das Screening wurde auch deshalb gemacht, weil viele Frauen ab einem gewissen Alter gar nicht mehr zum Frauenarzt gehen. Wir sehenn dann leider oft Frauen, die sehr spät kommen mit großen Tumoren, bei denen wir nicht mehr viel tun können. Bei Frauen, die regelmäßig zum Frauenarzt gehen, die Brust abtasten und vielleicht sogar noch einen Ultraschall machen lassen, finde ich das Screening nicht falsch, aber nicht so wichtig wie bei anderen, die jahrzehntelang nicht mehr beim Arzt waren.

Welche Faktoren können Frauen bis zu einem gewissen Grad vor einer Erkrankung schützen oder nach einer Erkrankung das Risiko eines Rezivids senken?

Das sind ganz klar die drei Hauptfaktoren Sport, Ernährung und Mäßigung beim Alkohol. Mehrere große Studien belegen den positiven Einfluss von Sport auf die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung und den Verlauf. Ab einem gewissen Quantum sportlicher Aktivität treten deutlich weniger Rückfälle auf. Es sind übrigens nicht die Hochleistungssportarten, sondern die Ausdauersportarten, und zwar in einem Maß, die zum eigenen Körper passen. Man sollte vier- bis fünfmal pro Woche für eine halbe bis ganze Stunde seinen Puls über 100 bringen. Für manche genügt schon strammes Spazierengehen. Das kann jede für sich ausprobieren!

Es gibt die Hypothese, dass Krebs durch Entzündungen ausgelöst werden kann. Was halten Sie von speziellen Ernährungstipps wie Seefisch und Leinsamen?

Dass chronische Entzündungen Krebs auslösen, ist nicht neu. Die Datengrundlage für solche Ernährungstipps ist nicht ausreichend unterfüttert. Ich warne vor Exzessen aller Art. Es gibt Leute, die ernähren sich nur noch von Grüntee und Brokkoli, obwohl sie das gar nicht mögen. Wenn Sie gern Fisch mögen, ist das doch wunderbar! Aber wenn Sie nur noch Fisch essen, können Sie sich nicht vor Krebs schützen, dieser Umkehrschluss funktioniert nicht.

Was ist mit Alkohol? Der gilt für Frauen nach Brustkrebs ja als besonders schädlich...

Man sollte als Frau mit Brustkrebs möglichst wenig Alkohol trinken. Das gilt aber auch für Frauen ohne Brustkrebs und für Männer! Wenn Sie aber als Patientin gern am Abend ein Glas Rotwein trinken, weil das für Sie Lebensgenuss ist, dann sage ich: Jeder soll sich in seinem Körper auch wohlfühlen. Und wenn Sie mit Freunden zusammensitzen und mit einem Glas Wein dabei ein paar schöne Stunden haben, spricht da nichts dagegen. Gut ist, wenn es bei einem Glas bleibt und so etwas nicht jeden Abend stattfindet. In diesem Gläschen Rotwein stecken so viele gute psychische Faktoren!

Es gibt ja immer mehr Langzeitüberlebende. Wird für sie genug getan?

Die Probleme sehe ich auf zwei Schienen. Die Behandlungen hinterlassen körperliche Spuren, und dann gibt es noch die psychischen Probleme. Man realisiert nach fünf Jahren: Ich bin nicht gestorben. Aber die Krebsangst bleibt, und damit muss man umgehen lernen. Manchen fällt es leicht, manche holen sich Hilfe, aber manche bekommen es nie in den Griff. Das ist dann nicht mehr rational, belastet aber die Menschen sehr. Das Problem ist, dass die Ressourcen begrenzt sind, auch im Gesundheitswesen. Das müssen aber eher die Politiker lösen als die Ärzte.

Wenn Sie einer Frau diese Diagnose überbringen müssen, was ist der wichtigste Rat, den Sie ihr geben?

Im Moment der Diagnose sind die meisten gar nicht mehr aufnahmefähig. Wichtig ist, dass man mit den Betroffenen baldmöglichst darauf einen neuen Termin macht, bei dem man Zeit für ein Gespräch hat. Da kann man dann sagen: Wir haben da Konzepte, Sie sind bei uns gut aufgehoben. Man kann nicht in einem einzigen Gespräch Diagnose und Therapie unterbringen. Den Patientinnen rate ich: Sie müssen sich nüchtern diesem Problem stellen – es ist jetzt so. Oft erlebe ich, dass die Menschen noch lange einen Ausweg suchen, vielleicht ist es kein Krebs, die haben sich geirrt... Man bringt sich selbst als Betroffener nicht weiter, wenn man Illusionen nachhängt. Wenn man das akzeptiert und sich mit der Krankheit auseinandersetzt, wird man zum Manager seiner eigenen Krankheit und versteht, dass man die eine oder andere Therapie wirklich braucht, auch wenn sie unangenehm ist. Jedes Jahr werden die Therapien wieder ein bisschen verträglicher. Und: Wir bekommen heute zwei Drittel aller Patientinnen dauerhaft gesund.

Zur Person

Dr. Wolfram Lucke, Jahrgang 1967, ist seit 2007 Chefarzt der Frauenklinik des Hegau-Bodensee-Klinikums. Er wurde in Stuttgart geboren und studierte in Kiel Medizin. Lucke ist auch musikalisch begabt und hat Klavier und Cello gelernt. Er dirigiert er gelegentlich, so auch das Orchester des Gesundheitsverbundes im Landkreis Konstanz. Am 16. und 17. November gibt es Benefizkonzerte des Orchesters zugunsten der Krankenhausfördervereine Singen und Konstanz.