Herr Quetting, der Titel Ihres Buchs heißt „Plötzlich Gänsevater“. Haben Sie sich denn nicht ausführlich vorbereitet auf das fast drei Monate lange Projekt?
Für ein Projekt dieser Größe war es doch plötzlich. Wir haben erst Ende Februar 2015 beschlossen, es in Angriff zu nehmen. Denn der Hersteller unserer Datenlogger, die die Gänse tragen sollten, hatte gemeldet, dass die Geräte jetzt zu Verfügung stehen. Dann musste alles ganz schnell gehen. Ich hatte kaum Zeit, mir über die Tragweite unseres Vorhabens Gedanken zu machen.
Sie konnten nicht überlegen: Ich und die Gänse – wie wird das sein?
(lacht) Nein. Wenn ich mir ausführlich Gedanken gemacht hätte, wäre vielleicht Muffensausen eingetreten... Das „Plötzlich“ im Buchtitel verweist auch darauf: Wenn die Tiere aus dem Ei schlüpfen, dann ist man ganz plötzlich Vater. Das ist unumkehrbar. Denn die Gänsekinder sind ja da, werden auf mich geprägt und können dann ohne mich nicht überleben.
Sie hatten also eine Mehrfachfunktion als Versorger, Hüter und Beschützer?
Ja, denn Gänse sind Nestflüchter. Sie verlassen nach dem Schlüpfen das Nest und kommen nicht dahin zurück. Das heißt, die Gänseküken brauchen eine Bezugsperson, die ihnen zeigt, wo es hingeht. Sonst sind die völlig hilflos.
Könnte man auch Störche auf sich prägen?
Nein, das geht nicht. Störche sitzen ja im Nest und werden dort gefüttert, wie bei fast allen unseren Vogelarten. Die Prägung auf einen Menschen funktioniert nur bei einem Nestflüchter wie der Gans. Infrage kämen daher vielleicht noch Seidenschwäne.
Teilen sich normalerweise Gänsevater und Gänsemutter die Arbeit mit den Kleinen?
Ja klar, sie sind beide für den Nachwuchs zuständig. Und oft sieht man auf einem See, dass beide Eltern mit den Küken schwimmen und mit ihnen eng zusammen sind.
Haben Sie bereits bei der Pflege der Eier im Brutkasten eine emotionale Beziehung aufgebaut?
Natürlich. Es ist faszinierend, wenn mir das Ei antwortet, etwa wenn ich der Brut aus der Erzählung von Nils Holgersson vorlese, damit sich die Küken an meine Stimme gewöhnen. Dann fängt es im Ei an zu piepen, und die Eier bewegen sich ganz leicht hin und her. Da baut man auf jeden Fall eine Bindung auf.
Sie wussten also: Es rollt etwas auf mich zu . . .
Ja ja! Es ist so, wie wenn Sie bei einer Schwangeren die Hand auf den Bauch legen und Sie fühlen, dass sich was da drin bewegt. Dann ist es umso spannender, wenn dann der Schlupf beginnt, weil man sich denkt: Hoffentlich geht alles gut.
Und woher kamen die Eier?
Sie kamen von einem Züchter in Norddeutschland, der Bruteier von Gänsen anbietet.
War da schon etwas am Heranwachsen?
Nein, das Wachstum in den Eiern beginnt erst dann, wenn sie gewärmt werden. In diesem Fall im Brutkasten mit einer Temperatur von 37,8 Grad bei einer Luftfeuchte von etwa 80 Prozent. Gekühlt können diese Eier auch mal zwei Wochen liegen, ohne dass darin etwas passiert.
Wann haben Sie nach dem Schlüpfen Ihrer sieben Gänseküken ein erstes Tagesprogramm veranstaltet?
Vom Tag eins ab. Wir sind sofort raus und weg von meinem Wohnwagen, in dem ich elf Wochen allein gelebt habe. Es war wie in der Natur. Die Küken watscheln vom ersten Tag hinter der Mutter her. Zunächst war die Distanz kurz. Etwa vom Wohnwagen 200 Meter bis zum Bach und zurück. Mit vielen Ruhepausen dazwischen. Oder wir waren im Schilf oder auf einer großen Wiese unterwegs. So etwas geht übrigens nur an unserem besonderen Institut in Möggingen. Das liegt seit 60 Jahren mitten in der Natur des Wasserschlosses zu Bodman.
Da haben die Küken leicht selbst gelernt, was sie fressen?
Ja, das läuft ganz automatisch, da muss auch nichts zugefüttert werden. Auf der anderen Seite machen die Küken brutal viel Kot. Gut ist, dass Gänse nur Pflanzen fressen. Der Kot stinkt nicht und ist relativ fest. Daher kommt man damit gut klar. Ich hatte die Gänse anfangs ja oft unter der Jacke auf dem Bauch liegen. Irgendwann stört man sich am Kot nicht mehr groß, wirft es einfach weg und gut.

Sie mussten auch in einer Art Gänsesprache reden. Wie lief das?
Es war recht simpel. Es gibt „Wiwiwi“ als sanfte Ansage und „Gagaga“ etwa für Warnungen vor Gefahr. Und dann hatte ich noch eine Fahrradhupe, eine Tröte mit Gummibalg. Die war durchschlagend, auch weil sie den Gänselaut gut imitiert. Die Tröte gab den Universal-Warnlaut ab, was so viel hieß wie: Kommt sofort zu mir!
Sie hatten die Tröte immer zur Hand?
Ja, die war immer dabei, und die Küken waren total auf sie geprägt.
Jetzt ging es ja vor allem um das Fliegen mit den Gänsen. Wann haben Sie erste Versuche unternommen, um die Küken dem Fliegen näherzubringen?
Früh, schon am vierten, fünften Tag. Wir sind täglich zu meinem Ultraleichtflugzeug gelaufen, ich habe den Elektromotor gestartet und den Propeller laufen lassen, damit die Gänse merken, dass das völlig o.k. und mit keiner Gefahr verbunden ist. Das hat gut funktioniert. Vielleicht auch deshalb, weil sie schon im Ei auf das Propellergeräusch geprägt wurden. Ich habe den Eiern einfach Aufnahmen vorgespielt.
Wann waren die Gänse flugfähig?
Etwa nach acht Wochen. Wenn die Gänse dann fliegen können, werden sie relativ schnell selbstständig und machen ihr eigenes Ding. Dann brauchen mich die Gänse zum Beispiel nicht mehr als Behüter über Nacht. Nach elf Wochen im Wohnwagen habe ich wieder daheim geschlafen, die Gänse waren in der Volière. Dann bin ich tagsüber bei ihnen gewesen.

Wann haben Sie die Küken an die Datenlogger gewöhnt?
Schon als sie noch klein waren, etwa im Alter von zwei Wochen. Dann haben sie ein Gurtzeug bekommen, auf dem ein Dummy befestigt war, ein leeres Kunststoff-Schächtelchen. Es ging einfach um die Gewöhnung an das Gurtzeug. Es wird dann mit dem Wachstum laufend angepasst.
Und die Gänse haben sich in Größe und Charakter unterschiedlich entwickelt?
Ja, genau! Der Nemo etwa war später ein Kilo schwerer als seine Brüder. Ich hatte ja lauter Jungs, wie sich erst später herausgestellt hat. Es war neu für mich, dass jede Gans ihre eigene Persönlichkeit entwickelt hat. Ich hätte nie gedacht, dass sie so unterschiedlich sind. Nemo wollte immer als Erster ins Wasser. Man kann wirklich von kleinen Gänsepersönlichkeiten sprechen. Es war faszinierend für mich, das zu sehen. Die Gänse achten auch aufeinander. Wenn der Frieder zurückblieb, ist der Maddin stehen geblieben und hat geguckt, wo er bleibt. Die Gänsefamilie ist extrem sozial. Und das Schimpfwort „Dumme Gans“ ist total falsch.
Gab es auch Bedrohungen?
Ja, durchaus. Zunächst mal durch Hunde und dann durch die Greifvögel, die aus der Luft eine schöne Gänsemahlzeit sehen. Ein Bussard stürzt dann zur Erde und greift sich ein Küken. Auch ein Hecht holt sich so ein Küken ganz gerne von unten.
Als das Experiment an sein Ende kam, hat Sie zum Abschied Wehmut gepackt?
Es war sehr schwer für mich, immerhin kann ich zwei Gänse noch in einem Freizeit- und Tierpark im Hegau besuchen. Aber es war auch spannend, zu sehen, was das Experiment mit mir gemacht hat. Ich war ja vorher ziemlich gestresst und immer mit dem Internet beschäftigt. Es war komisch am Anfang, sich davon zu verabschieden und sich nur noch einer Sache, den Gänsen, zu widmen. Nach ein paar Tagen habe ich es dann genossen – diese Schau nach innen und sich als Teil der Natur zu begreifen. Nachts im Dunkeln am Waldrand zu sitzen, war total spannend. Man hört Wildschweine oder Rehe, und man merkt erst jetzt, wie viel Leben dort ist. Ich hatte nie Langweile, nicht eine Minute. Heute frage ich mich: Wie ging das? Die Lösung war, sich ganz auf die Gänsekinder einzulassen.
Würden Sie so etwas noch einmal tun?
Ja, denn ich weiß, was mich genau erwartet, und es ginge mir auch leichter von der Hand. Dazu kommt: Die Datenlogger sind schon wieder einige Generationen weiter, kleiner und leichter, und ich bekäme noch bessere Messdaten. Allerdings würde ich es zu zweit machen. Das geht. Man kann Gänse auch auf zwei Menschen prägen.
Fragen: Alexander Michel
Zur Person
Michael Quetting, 43, ist seit 2009 Laborleiter und Pilot am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell-Möggingen. Er kommt aus Singen und machte seine Ausbildung zum biologisch-technischen Assistenten in Überlingen. Sein Buch heißt Plötzlich Gänsevater. Sieben Graugänse und die Entdeckung einer faszinierenden Welt. Es ist diese Woche im Ludwig Verlag erschienen, hat 240 Seiten, zahlreiche Farbfotos und kostet 19,99 Euro.
Was das Projekt erreichen soll
- Wissenslücke: Bis heute sind Wissenschaftler nicht in der Lage, kleinen und kleinsten Tieren während ihrer langen Reisen zu folgen. Milliarden Singvögel ziehen jedes Jahr von Kontinent zu Kontinent. Auch viele Fledermaus- und unzählige Insektenarten bewältigen große Strecken – und wechseln dabei möglicherweise ebenfalls von einem zum anderen Kontinent. Man weiß es nicht genau.
- Was man sich verspricht: Rüstet man Vögel mit Mini-Sendern (Datenloggern) aus, können zum Beispiel Wetterdaten übermittelt werden, wenn die Vögel Meeresgebiete in großer Höhe überqueren. Dazu gehören die Temperatur, die Luftfeuchte und die Richtung der Luftbewegung. Die Vögel sind dann fliegende Wettersonden, die eine Fülle von Daten liefern. Das kann eine genauere Vorhersage ermöglichen als sie bisher möglich ist. Mit den Mini-Sonden könnte auch die Verbreitung von Krankheitserregern gemessen werden, um Warnungen zu erstellen. Zudem werden mehr lokale Daten über den Klimawandel verfügbar. Die Sonden sind winzig klein und werden an den Füßen befestigt.
- Projekt Icarus: Die Daten der Wanderbewegungen der Tiere sollen künftig von der Internationalen Raumstation ISS aufgefangen und gesammelt werden. Von dem Projekt, das im kommenden Oktober startet, versprechen sich die Wissenschaftler revolutionäre Erkenntnisse über das Leben, Verhalten und Sterben der Tiere auf unserem Planeten. Das könnte auch die Einrichtung von Naturreservaten als Ruheräume für Zugvögel etwa in Afrika beeinflussen. (mic)