Ein Mann hinkt durch die Fußgängerzone, klimpert mit Münzen in einem Pappbecher. Seine Mütze ist weit ins Gesicht gezogen. Er murmelt vor sich hin. Manchmal spricht er Passanten an. „Hunger, Hunger“ oder „Geld, Geld“ stammelt er. Doch die meisten schauen weg. Sie beschleicht wahrscheinlich ein ungutes Gefühl: Wird er ausgebeutet? Wo landet mein Geld? Gehört der Mann zur Bettelmafia?

Ingo Drews ist in Konstanz obdachlos. Er kennt die Bettelszene gut

Menschen wie Ingo Drews leiden darunter. Er lebt jeden Sommer am Bodensee – auf der Straße. Gebettelt hat er nie. Drews sammelt lieber Flaschen. Aber seine Freunde sind auf milde Gaben angewiesen, um zu überleben.

Bild 1: Bedürftig oder kriminell? Dem Mythos Bettelmafia in der Region auf der Spur
Bild: Küster, Sebastian

Er kennt die osteuropäischen Bettler, die durch aggressives Betteln, Menschen verunsichern. Und er ist sich sicher, dass sie zur Bettelmafia gehören. Der Mann mit weißem Vollbart beobachtete mehrmals, wie Mitglieder ihr gesammeltes Geld an einen Mann in der Nähe des Konstanzer Bahnhofs abgeben mussten.

Das könnte Sie auch interessieren

Für die Sicherheitsbehörden reichen diese Beobachtungen aber nicht aus, um tätig zu werden. „Die Strukturen nachzuweisen, ist für uns extrem schwierig“, sagt Jürgen Glodek vom Landeskriminalamt (LKA). Betteln an sich ist in Deutschland nämlich erlaubt. Kriminell wird es erst, wenn Menschen dazu gezwungen werden.

Viele glauben an die Bettelmafia, Beweise gibt es aber nicht

Meistens bleibt es bei einer Vermutung. Es ist das alte Lied vom fehlenden Beweis. Nicht verwunderlich, dass in Baden-Württemberg in den letzten Jahren „keiner wegen gewerbsmäßiger Bettelei vor Gericht stand“, sagt Glodek.

Verdächtigt werden in der Regel Roma. Minderheiten-Verbänden zufolge sollen in Deutschland zwischen 70 000 und 150 000 von ihnen leben. Genauere Zahlen gibt es nicht, weil keine offiziellen Daten von Bund und Ländern erhoben werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Ex-Ermittler ist sich sicher, dass die Bettelmafia existiert

Um herauszufinden, ob und wie viele Roma ausgebeutet werden, braucht die Polizei Betroffene oder Aussteiger, die erklären, wie die Masche läuft. Ein ehemaliger Ermittler, der jahrelang versuchte der organisierten Bettelei das Handwerk zu legen, kennt sich aus. Er will unerkannt bleiben, weil er nicht als Rassist abgestempelt werden möchte.

Er ist sich sicher: Es gibt diese Bettelmafia. Doch die Mitglieder seien verschwiegen. Wer vor der Polizei auspackt, lebe gefährlich. Die Anführer wüssten, wo die Familien wohnen – und meistens reiche es aus, Unzufriedene genau daran zu erinnern. Fazit: Einfach weitermachen.

Das könnte Sie auch interessieren

Obwohl die Wurzeln dieser Clans tief in die Unterwelt reichen sollen, glaubt der Ermittler, dass es möglich wäre, die Strukturen nachzuweisen. Telefone abhören, Wohnungen und Autos verwanzen, V-Männer einschleusen. Doch die Ressourcen reichten nicht und der Datenschutz habe Vorrang.

Zu wenig Personal bei der Polizei, um Clanstrukturen aufzudecken?

Auch der politische Wille fehle. Denn wer – wie bei Organisierter Kriminalität üblich – im Dunkelfeld ermittelt, macht sich seine makellose Kriminalstatistik kaputt. Personal, Zeit und Geld würden deshalb lieber in anderen Deliktfeldern wie Diebstahl und Einbruch eingesetzt.

Fünf Tipps, wie Sie einen echten Obdachlosen erkennen

Für Markus End ist das alles Irrsinn. Er glaubt nicht an eine europaweit vernetzte Bettelmafia. Der Antiziganismus-Forscher beschäftigt sich seit Jahren mit Rassismus gegen Roma und Sinti. Er ist der Meinung: Die Bettelmafia ist nur ein antiziganistisches Stereotyp.

Kenan Emini vom Roma Antidiscrimination Network (Antidiskriminierungsnetzwerk für Roma) sagt: „Das Bild der „Bettelmafia„ ist medial konstruiert und wird immer wieder gerne reproduziert. Über die realen Hindergründe der Bettler hingegen redet keiner. Sie sind von der Gesellschaft durch Diskriminierung und Rassismus ausgeschlossen und haben keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Die gesamte Familie der Bettler sei von diesem Ausschluss betroffen und seien deshalb auf Betteln angewiesen.

Dadurch könne der Eindruck entstehen, es handele sich um organisierte Strukturen. In der Realität sei es jedoch nur eine Familie, die gemeinsam versucht, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ausdrücke wie „Mafia“ oder „Clan“ erzeugen laut Emini Bilder von Gewalt und Kriminalität und damit Angst in den Köpfen der Bevölkerung. Und das könn wiederum zu Abneigung und Gewalt gegen die Bettler führen.“

Alles nur Vorurteil? Ein Blick in die Region kann helfen diese Frage zu beantworten. Laut Anja Fuchs von der Stadtverwaltung Konstanz gibt es zumindest Hinweise, „die auf das Vorliegen einer organisierten Struktur hindeuten.“ Die Stadt startete vor einigen Jahren eine Kampagne gegen aggressives Betteln. Seitdem sei die Zahl „spürbar zurückgegangen.“

Ein Mann sitzt in der Konstanzer Fußgängerzone und bettelt.
Ein Mann sitzt in der Konstanzer Fußgängerzone und bettelt. | Bild: Scherrer, Aurelia

Polizeisprecher Uwe Vincon sieht das ähnlich. Es gäbe zwar immer noch aggressive Bettler in Konstanz, „aber das Wort ‚Bande‘ kann von hier nicht bestätigt werden“, sagt er.

Bettelbanden in Villingen-Schwenningen?

Valide Zahlen, wie viele osteuropäische Bettler in der Region aktiv sind, gibt es nicht. Trotzdem geht die Stadt Villingen-Schwenningen etwa, seit über zehn Jahren resolut gegen Verdächtige vor. „Wir sind da gut aufgestellt“, so Oxana Brunner gegenüber dem SÜDKURIER. Neben den Platzverweisen, die die Regel seien, habe man auch schon ein Zeltlager geräumt.

Das könnte Sie auch interessieren

Polizei glaubt an Familienclans am Hochrhein

Ein ähnliches Bild zeigt sich am Hochrhein. Auch hier bitten arme Menschen aus Osteuropa um milde Gaben auf der Straße. Die Polizei geht davon aus, dass sie aus Rumänien stammen, in Familienclans organisiert sind. Im Landkreis Waldshut-Tiengen seien Banden unterwegs, die Menschen zum Betteln auf die Straße schicken und unter unwürdigen Bedingungen hausen lassen. Oftmals übernachten sie laut Polizei in provisorischen Nachtlagern im Freien, in öffentlichen Einrichtungen oder leerstehenden Gebäuden.

Das könnte Sie auch interessieren

Ingo Drews erkennt in den osteuropäischen Bettler-Strukturen eine klare Hierarchie. Ein Mann hätte das sagen. Er nennt ihn den „Boss“. Und Drews ist nicht der Einzige. „Klar, den kenne ich“, sagt auch Ralf Seuffert. Seuffert leitet einen Fahrradverleih am Konstanzer Bahnhof und sieht oft, wie dieser „Boss“ die osteuropäische Bettler-Gruppe zusammenhält. „Der trägt bessere Klamotten als die anderen. Man erkennt, dass er der Chef ist.“ Laut Ingo Drews soll er zwischen acht und zehn Rumänen in Konstanz zum Betteln schicken.

Es bleibt die Frage: Beutet der „Boss“ die Menschen aus? Oder nimmt er ihnen das Geld nur ab, damit sie die Münzen bei der nächsten Polizeikontrolle nicht verlieren? Denn auch das ist möglich, wie Antiziganismusforscher Markus End weiß: „Manchmal täuscht uns ein Eindruck. Und wir dürfen nicht den Fehler machen, alles sofort zu glauben, was unsere Vorurteile bestätigen könnte.“

Das könnte Sie auch interessieren