Es ist der Moment, vor dem ich mich gefürchtet habe. Er schaut mich an, mustert mich, seine Lippen umspielt ein zynisches Lächeln. Mir läuft eine Gänsehaut den Rücken herunter. Ich will im Boden versinken, mich in Luft auflösen, einfach nur weg – hinaus aus diesem Gerichtssaal, der wie eine Folterkammer für die Seele ist.
Ich war nach vorne gegangen, bis an den Rand des Klapptörchens, das die Pressesitzplätze vom restlichen Gerichtssaal trennt, um den Gutachter etwas zu fragen. Der Prozess war gerade unterbrochen worden. Normalerweise wird Christian L. immer ziemlich schnell abgeführt. Nicht an diesem Tag. Wie angewurzelt steht er da, sein Blick geht hinauf und hinunter an mir.
Ich wirble herum, gehe schnell zurück zu meinem Platz in der letzten Reihe, den ich mir ganz bewusst ausgesucht hatte – um zufälligen Blickkontakt zu vermeiden. Zu spät. Ich glaube seine Blicke im Rücken zu spüren. Er steht immer noch da. Ich ducke mich zu meiner Tasche, verschwinde zwischen den Sitzreihen, reiße sie an mich und gehe aus dem Saal, ohne mich umzudrehen.
Die Szene geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Für mich ist die Begegnung fast schlimmer als alles, was ich vorher über diesen Mann an den bisherigen Verhandlungstagen im Staufener Missbrauchsprozess erfahren habe – oder vielleicht gerade deshalb.
Wie er da sitzt im immer gleichen schwarzen Hemd mit den albernen Aufnähern, die Beine lässig übereinandergeschlagen, die weißen Sneakers makellos. An manchen Tagen trägt er sogar einen Rosenkranz. Ein perfider Witz eines Pädophilen, der sich lange nicht als solcher gesehen hat. Oder einfach nur reine Provokation?
„Man wird vorsichtig, wenn man als Kinderficker hingestellt wird“, hat er Berrin T. einmal über WhatsApp geschrieben. Der Mann, der gerade aus dem Gefängnis gekommen war, wo er über vier Jahre einsaß, weil er Sex mit einer 13-Jährigen hatte und sie dazu animieren wollte, Nacktfotos von ihrer dreijährigen Schwester zu machen.
Der heute 39-Jährige fand das offenbar normal. Dabei war er schon fünf Jahre zuvor wegen Besitzes von Kinderpornografie verurteilt worden. Mit Berrin T. vergeht er sich zunächst an einem dreijährigen, geistig und körperlich behinderten Mädchen, bald darauf an dem Sohn der 48-Jährigen.

Blick in den Abgrund
Die Anklageverlesung ist kaum zu ertragen. Es werden unsägliche Details verlesen, was die beiden dem Mädchen angetan haben. Ich kann nichts dagegen tun, dass Szenen in meinem Kopf auftauchen, dass ich beginne, mir vorzustellen, was die Staatsanwältin da vorträgt.
Mir wird übel, ich schüttle immer wieder unbewusst den Kopf, rutsche auf meiner Sitzbank herum, die sich plötzlich hart wie Stahl anfühlt. Hätte ich gewusst, dass die Verlesung der Anklageschrift, die 108 Seiten umfasste, dreieinhalb Stunden dauern würde, wäre ich wahrscheinlich sofort aus dem Saal gerannt. Alles in mir sagt mir: keine Minute länger.
Doch ich bin hier als Journalistin, ich bin hier, um über diesen Fall zu berichten. Meine Professionalität überwiegt, muss überwiegen. Ich versuche mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, mechanisch schreibe ich mit, was gesagt wird – schon während ich es aufschreibe, weiß ich, dass ich einen Großteil davon nicht werde verwenden können. Es ist zu viel, das kann ich niemandem zumuten.
Die Zeit kriecht, während die Staatsanwältin die Anklage verliest, abwechselnd mit einer Kollegin – 58 Tatvorwürfe sind es. Und das sind nur die, für die sie Beweise haben, geht mir durch den Kopf. Vermutlich hat der heute zehnjährige Junge noch viel mehr erleiden müssen.
Schließlich sagte Christian L. aus, dass er sich sicher mindestens ein Mal pro Woche an dem Kind vergangen hatte. Über zwei Jahre lang. Wieder steigt Übelkeit in mir auf. Würgen musste auch der Junge öfter, schießt es mir durch den Kopf. Wenn er Männer befriedigen musste, festgehalten wurde, wehrlos seinen Peinigern überlassen wurde. Ja, das ist schwer zu ertragen. Immer wieder werden solche Szenen beschrieben, viele noch viel brutaler.

Was mich fast noch mehr schockiert, sind die Dinge, die der Junge sagen musste. Sätze, die Christian L. antörnten, jenen Mann, der im Darknet als „Geiler Daddy“ unterwegs war. Ich habe sie nie geschrieben, ich kann es auch jetzt nicht: Sie sind zu obszön, zu herablassend gegenüber dem Jungen.
Eine Kollegin neben mir kann nicht mehr an sich halten: „Du perverses Schwein“, flüstert sie vor sich hin. Was uns alle aufzuwühlen scheint, die wir hier sitzen, ist die Tatsache, dass die Mutter des Jungen den Missbrauch nicht nur zugelassen hat, sondern aktiv daran beteiligt war, sich auch alleine an ihrem Sohn verging.
Wenn er an andere Männer verkauft wurde, draußen im Freien, am hellichten Tag Pädophile im Wald befriedigen musste, sorgte sich Berrin T. vor allem um verräterische Flecken auf der Kleidung des Jungen. Wieder wird eine widerwärtige Szene beschrieben, wieder entstehen Bilder in meinem Kopf, die ich da gar nicht haben will.
Diese Frau ist ruchlos, denke ich, als ich höre, was sie über ihr eigenes Kind sagte: „Er braucht das.“ Glaubt sie das wirklich, frage ich mich. Oder hat sie einfach kein Gewissen mehr?
Gedankliche Flucht
Es ist schwierig, in diesem Gerichtssaal nicht mit den Gedanken anderswo hinzuflüchten. Wenn Sätze fallen, die so erniedrigend sind, dass ich merke, wie Wut in mir aufsteigt. Wut gegen diese Menschen, die einem unschuldigen Jungen seine Kindheit geraubt, womöglich sogar sein Leben zerstört haben. Die Frage, ob er sich jemals von diesem Trauma wird erholen können, beschäftigt mich sehr.
Ich merke im Lauf dieses Prozesses, dass ich dünnhäutiger, sensibler, verletzlicher werde. Ich reagiere empfindlich oder gereizt, wenn ich eine Bemerkung von Kollegen in den falschen Hals bekomme. Ich habe das Gefühl, dass ich mich niemandem mitteilen kann.
Dass ich dieses Päckchen alleine tragen muss – mit all den dunklen, gewaltsamen Szenen, mit all den Erniedrigungen und dem abgrundtief Bösen, dem ich näher kam, als mir lieb war und dem ich auch noch in die Augen sehen musste.
Wenn ich einkaufen gehe und plötzlich irgendwo ein Kind weint, erschrecke ich: Ich beginne, die vermeintlichen Eltern regelrecht zu observieren – wie sie mit dem Kind umgehen, immer gepaart mit der Frage: Ist das wirklich ihr Kind? Und was machen sie zu Hause mit ihm?

Ich bin wieder im Gerichtssaal, Christian L. macht seine Aussage. Die Gleichgültigkeit seiner Stimme, die klingt, als spreche er übers Wetter, macht mich fassungslos. Ich merke, dass dieser Mensch geradezu nach Aufmerksamkeit heischt. Mein Kollege vermutet, dass er Dankbarkeit will für seine Bereitschaft auszusagen.
Ich bin mir nicht sicher, was dieser Mensch will. Ich weiß nur, dass ich will, dass er endlich aufhört zu reden. Weil er sich so fürchterlich eloquent auszudrücken versucht. Er ahmt die Juristensprache nach, passt sich seiner Umgebung an.
Derselbe Mensch, der von „Druck ablassen“ redet, spricht jetzt von Missbrauch. Dieser Mann, der sich allen Ernstes als Vaterfigur darstellt, der ganz pädagogisch nach seinen Taten mit dem Jungen schon mal drüber gesprochen hat, „ob das jetzt alles so schlimm war“.
Fast empfinde ich so etwas wie Dankbarkeit, dass Berrin T. nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagt. Aus journalistischer Sicht wäre es wichtig gewesen, aus ihrem Mund zu hören, wie sie ihre Taten rechtfertigen will – überhaupt einmal ihre Stimme zu hören.
Doch die Frau mit den kahlen Stellen am Kopf, die fast immer ein blaues T-Shirt über den ausgewaschenen Jeans trägt, schweigt in den öffentlichen Teilen, starrt auf den Tisch, als warte sie, dass es vorbei ist und sie wieder zurück in ihre Zelle kann.
Auf mich wirkt sie innerlich tot. Und das muss man wohl auch sein, denke ich mir, wenn man in der Lage ist, solche Taten zu begehen. Doch die Frage, was sie dazu gebracht hat, so grausam und skrupellos zu werden, lässt mich nicht mehr los.

Die Frage nach dem Warum
Ich beginne, Experten zu befragen, in der Hoffnung, Antworten zu finden. Es hilft mir, besser damit umzugehen. Andere lassen ihrer Wut, die wohl auch aus der Hilflosigkeit entsteht, dass das Geschehene nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, freien Lauf: „Die gehört auf den Scheiterhaufen“, sagt eine Kollegin. Das finde ich nicht.
Wir leben nicht mehr im Mittelalter, die Justiz wird ein gerechtes Urteil fällen und diese Frau mit der Gewissheit leben müssen, dass sie unaussprechliches Leid verursacht hat. Wenn sie denn ein Gewissen hat. Ich zweifle daran.
Immerhin ist sie eine Frau, die ihrem Partner (ich weigere mich, ihn als Lebensgefährten zu bezeichnen, die beiden führten in meinen Augen eine perfide Zweckgemeinschaft, keine Beziehung) vorschlug, dem Mädchen nach dem Missbrauch Schokolade zu geben. „Das hilft bei Kindern immer.“ Wie so oft schüttle ich sprachlos den Kopf.
Die beisitzenden Richter, die Staatsanwältin, die Opferanwältin, sie alle stellen Fragen, haken nach. Zum Teil wird es abstrus – es geht um die Höhe der Summen, die gezahlt wurden, wo irgendwelche Sexspielzeuge gekauft wurden. Für die Staatsanwaltschaft sind es wichtige Details. Ich empfinde es als Folter.
Denn jedes Mal bietet sich damit für Christian L. eine neue Bühne, auf der er sich darstellen kann. Es werden Zeugen gehört, viele unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie die Mutter des Mädchens, das missbraucht wurde – oder Familienangehörige der Angeklagten. Schließlich kommt das Jugendamt dran: Ich bin neugierig, wie ein Mann aussieht, der mit der Gewissheit leben muss, dass er Warnungen der Schule ignoriert, beziehungsweise als „vage Hinweise“ abgetan hat.
Die Tatsache, dass der Junge nach der zwischenzeitlichen Inobhutnahme nicht untersucht wurde, macht mich fassungslos, wütend. Und dann die Familienrichterin, der ich Blauäugigkeit, wenn nicht Blindheit attestiere, wenn ich sie so reden höre. Berrin T. eine liebende Mutter? Mehrere Kollegen, auch ich, kichern nervös. Weil es so absurd klingt, was diese Frau da sagt.

Das Gutachten ist für mich fast eine Erleichterung. Weil es zumindest ansatzweise Licht ins Dunkel bringt, in diesen Abgrund des Bösen, in den ich wochenlang blickte. Ich hoffe, dass ich nach dem Urteil, das am Dienstag fällt, einen Abschluss finde, die Bilder in meinem Kopf vergessen kann – den fürchterlichen Blick dieser dunklen Augen, die mich verfolgen. Irgendwann.
Wie Medien mit dem Staufener Missbrauchsprozess umgehen
Es ist eine Frage der Ethik und der Moral, aber auch eine Frage dessen, was das Medium dem Leser oder Zuschauer zumuten will: Nennen wir die Namen der Angeklagten, der Opfer, zeigen wir sie unverpixelt auf Bildern?
- Der Schutz der Persönlichkeit gilt – ob ein Mensch nun angeklagt ist oder nicht. Nicht nur der Pressekodex, sondern auch die Rechtslage gebietet uns, diese zu respektieren. Das Interesse der Öffentlichkeit überwiegt rein rechtlich nur in wenigen Fällen – etwa bei Fahndungen. Dann darf der Gesuchte unverpixelt und mit Namen gezeigt werden.
- In diesem Fall stehen auch die Interessen des Opfers im Vordergrund. Der Schutz des Kindes steht an höchster Stelle. Deshalb haben wir den Namen, auch wenn er im Gerichtssaal immer wieder vorkommt, nicht genannt. In diesem Fall hätte dies auch rechtliche Konsequenzen – denn der zehnjährige Junge steht als Minderjähriger unter besonderem Schutz. Das Jugendamt hat eine Berliner Kanzlei mit der Wahrung seiner Interessen und dem Schutz seiner Persönlichkeit beauftragt. Für die meisten Medien steht dies aber ohnehin außer Frage.
- Anders sieht es bei den Angeklagten aus. Der SÜDKURIER hat sich dagegen entschieden, Christian L. und Berrin T. unverpixelt zu zeigen. Zwar ist das öffentliche Interesse groß. Aber als Medium tragen wir auch eine Verantwortung. Und in diesem Fall muss auch der Schutz der Täter und ihrem Persönlichkeitsrecht berücksichtigt werden. "Redakteure sollten sich nicht von ihren Emotionen leiten lassen", sagt Chefredakteur Stefan Lutz. Zu sagen, dass jemand, der so etwas getan hat, sein Recht auf den Schutz der Persönlichkeit verwirkt hat, mag naheliegen. Aber aus unserer Sicht ist das nicht richtig.
- Fernsehsender folgen bei ihrer Berichterstattung eigenen Regeln. Viele Boulevardnachrichten zeigen die Angeklagten unverpixelt. Spiegel TV hat eine Dokumentation veröffentlicht, in der ein Foto des Angeklagten immer größer wird, auf den Zuschauer zukommt. Der Blick des Mannes ist direkt in die Kamera gerichtet. Wir glauben, dass das nicht jeder Leser sehen möchte. Genauso wie wir entscheiden müssen, wie detailreich wir die Taten schildern. Das, was Sie im SÜDKURIER über den Prozess gelesen haben, ist nur ein Bruchteil dessen, was im Gerichtssaal gesagt wurde. Auch das ist Aufgabe der Journalisten: abzuwägen, wann die Informationspflicht die Grenze des Zumutbaren überschreitet – eine Gratwanderung. (mim)