Ravensburg – Wie sehr dieser viertägige Prozess die 1. Strafkammer am Landgericht Ravensburg faktisch und emotional beschäftigt hat, wurde am gestrigen letzten Verhandlungstag im spärlich besetzten Saal eins deutlich: die Urteilsbegründung durch Richter Veiko Böhm, acht Jahre Freiheitsstrafe für eine 25-jährige Frau aus dem Landkreis Konstanz wegen der Tötung ihrer neugeborenen Tochter im Mai 2017, dauerte fast eine Stunde und damit länger als die Plädoyers der Staatsanwältin Tanja Kraemer und der Strafverteidigerin Rebecca Wurm (Biberach) zusammen.
„Das ging emotional ans Eingemachte“
Der Vorsitzende Richter Böhm sagte: „Wir haben uns nicht um diesen Fall gerissen. Das ging emotional ans Eingemachte. Allein die Bilder ließen einem die Nackenhaare sträuben“. Und das Verhalten der Angeklagten sei von „himmelschreiender Verantwortungslosigkeit“ geprägt gewesen.
Böhm sprach damit den Fund der Babyleiche an. Ein zehnjähriger Junge hatte diese vor zwei Jahren beim Rasenmähen bei Rulfingen im Landkreis Sigmaringen entdeckt. Neben der viel befahrenen B 311 und hinter Strohballen hatte die Versicherungskauffrau drei Tage zuvor im Dunkel der Nacht das Kind auf die Welt gebracht.
Mutter stopft Neugeborenem Blätter einer Küchenrolle in den Mund
Als das Neugeborene zu schreien beginnt, hält ihm die Mutter den Mund zu und stopft ihm dann zwei Blätter einer Küchenrolle in den Mund. Dann lässt sie das Baby nackt auf der Wiese liegen und geht zurück zu ihrem Partner und einem befreundeten Paar, die sich mit ihr auf der Rückfahrt von einem Urlaub am Wörthersee befanden. Eine blutverschmierte Jeanshose und Zeugenhinweise bringen die Polizei auf die junge Frau. Die Obduktion der Babyleiche ergibt, dass das Neugeborene erstickte. Weder Partner noch Begleitung wollen von der Schwangerschaft gewusst haben. „Ignoranzhaltung“ nannte das die Staatsanwältin.
Frau war vor einem Jahr wegen Mordes verurteilt worden
Der Fall hat bereits vor mehr als einem Jahr Schlagzeilen gemacht. Damals war die Frau von der 1. Schwurgerichtskammer in Ravensburg wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Von „planerischer Energie“ und „Entsorgungsmentalität“ hatte der Staatsanwalt damals gesprochen. Und der Vorsitzende Richter Stefan Maier unterstellte, „das Kind war Störfaktor und musste weg“. Aber der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hatte in der Revision das Urteil aufgehoben und vermisste explizit eine Begründung des Mordmotivs.
Für die neue Strafkammer hatte das zu der unangenehmen Situation geführt, sich mit dem Urteil „geschätzter Kollegen“ auseinanderzusetzen und eine angemessene Strafe zu finden. Richter Böhm kritisierte: „Der BGH lässt einen in diesen Fällen im Regen stehen“. Doch weder Staatsanwältin Kraemer noch die Strafkammer konnten Mordmerkmale feststellen. Zwar sei das Verhalten der Angeklagten, die Schwangerschaft bis zuletzt zu leugnen, und das Problem wie in anderen Situationen „aussitzen“ zu wollen, von maßloser Verantwortungslosigkeit geprägt, so Kraemer. Aber es handle sich hier um eine Spontan-Tat. Sie forderte für den Totschlag eine Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten.
An die wie versteinert wirkende Angeklagte gewandt, sagte der Richter: „Die Schuld liegt bei Ihnen. Dreh- und Angelpunkt sind allein Sie. Und Sie müssen versuchen, eine realistische Sichtweise Ihrer Person zu bekommen“.
Kindstötung
Die Tötung eines Kindes innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Geburt wird als Neonatizid bezeichnet. Offizielle Zahlen gibt es in Deutschland nicht. Aber „terre des hommes“, Hilfsorganisation für Kinder in Not, kommt nach Auswertung von Medienberichten auf 15 bis 20 Tötungen von Neugeborenen pro Jahr. Fast drei Viertel davon werden von der leiblichen Mutter verübt. Oft spielen Konflikte mit dem Elternhaus eine Rolle und die Angst, den Partner zu verlieren. Oder auch drohende soziale Isolation. Trotz Babyklappen und der Möglichkeit der anonymen Geburt ist die Zahl der Kindstötungen nicht signifikant zurückgegangen. (wr)