Matthias Schuberts Eltern wollen mit ihm abends zum Essen gehen. Kaum hat er das erzählt, reibt er sich immer wieder rasch mit beiden Handflächen von oben nach unten durchs Gesicht. „Weil ich mich freue“, antwortet er, ohne eine Miene zu verziehen, auf die Frage, warum er das tue. Eine ungewöhnliche Geste, die zeigt, dass er anders ist als viele Menschen in seinem Alter. Der 30-Jährige hat das Down-Syndrom, wie etwa 50 000 Menschen, die in Deutschland mit dieser Genveränderung leben.

Hochbetrieb im Lagerhäusle
Bis es soweit ist, muss er noch ein paar Stunden arbeiten. Um die Mittagszeit herrscht Hochbetrieb im Lagerhäusle in Altheim unweit von Überlingen, einem Restaurant und Kulturhaus der Camphill Schulgemeinschaften, in dem seit 1995 behinderte und nicht behinderte Menschen zusammenarbeiten.

Matthias ist heute in der Küche eingeteilt.
Eigentlich arbeitet er lieber im Service, nimmt Bestellungen auf und bringt den Gästen das Essen. Von weitem begrüßt er neue Besucher, die soeben Platz genommen haben, lächelt – und sie lächeln zurück, winken ihm zu. Man kennt und schätzt ihn, so wie die anderen Menschen mit Behinderung, die hier arbeiten.

„Er kann sehr viel“, sagt Lagerhäusle-Bereichsleiter Markus Seefried. Fünf bis sechs der 15 Mitarbeiter sind behinderte Menschen – Menschen mit Assistenzbedarf, wie Seefried es nennt. Sie bräuchten feste Strukturen und Abläufe, denn ein Abweichen von der Routine könne sie aus der Bahn werfen. Seefried und seine Kollegen haben hier eine Oase der Integration geschaffen, die ankommt. Behinderung? Im Lagerhäusle ist das kein Problem.
Nimmt Diskriminierung zu?
Doch wie geht unsere Gesellschaft damit um? Vor zehn Jahren hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet und sich damit zur Inklusion behinderter Menschen verpflichtet. Die Caritas beobachtet, dass sich die gleichberechtigte Teilhabe Behinderter in den letzten Jahrzehnten zwar immer weiter verbessert hat, diese jedoch regelmäßig und zunehmend mit Angst, Vorbehalten, Diskriminierung und Ausgrenzung konfrontiert werden.
Ein Grund dafür sei die AfD. „Wir befürchten“, teilt die Caritas auf Anfrage mit, „dass das Menschenbild, das die AfD von Menschen mit Behinderung zeichnet, sich ebenfalls in Taten ausdrücken wird und diese Menschen zur Zielscheibe von Ausgrenzung und Diskriminierung im Alltag werden.“ So versuche die Partei immer wieder in Kleinen Anfragen im Bundestag, einen Zusammenhang von Inzucht, Migration und Behinderung herzustellen.

In den ersten Jahren, als ihr Sohn klein war, hatten die Schuberts häufig solche Erlebnisse. In Mimmenhausen, wo sie damals wohnten, wechselten die Leute die Straßenseite, wenn sie ihnen begegneten. Die Bäckerin erkundigte sich, wie es ihrem Sohn gehe. „Zur Zeit gut“, antwortete der heute 67-Jährige damals. „Wir hoffen, dass es so bleibt.“ „Einen Trost habt ihr ja“, sagte die Frau, „alt werden die nicht.“

Eine Freundin der Schuberts, die eine Tochter mit Down-Syndrom hat und jede Woche mit ihr in einen Markdorfer Supermarkt zum Einkaufen geht, trifft dort häufig eine ältere Frau, die sie freundlich begrüßt. Man wechselt ein paar Worte – mehr nicht. Als sie einmal ohne ihre Tochter unterwegs ist, sagt die Frau: „Haben Sie ihr blödes Kind heute nicht dabei?“
Verständnis für Hilflosigkeit der anderen
„Das war sicher nicht böse gemeint“, sagt Gerd-Ulrich Schubert. „Sie wusste wahrscheinlich nicht, wie sie es sagen sollte.“ Er und seine Frau haben Verständnis für die Hilflosigkeit der anderen.
Doch sie stoßen immer wieder an Grenzen: So wie in einer Kunstausstellung in Lindau, als andere Besucher sie und ihren Sohn regelrecht verfolgten und angafften.
Die ersten Jahre verbrachten sie fast ständig in der Klinik
Matthias litt an einem besonders schweren Herzfehler, an dem er fast gestorben wäre, weil dieser nicht rechtzeitig erkannt worden war. Bis er sieben war, musste er viermal am Herzen operiert werden, immer wieder bangten seine Eltern um sein Leben. Gabi Schubert und ihr Mann wechselten sich in der Betreuung des Kleinen ab: Kaum kehrte die Erzieherin von der Arbeit nach Hause, übernahm sie ihren Sohn. Ihr Mann verschwand dann in seiner Goldschmiede-Werkstatt.

Eigentlich wollten sie vier Kinder haben. Doch diese Hoffnung zerplatzte, als sich herausstellte, dass ihr Sohn eine erbliche Form der Trisomie hat. Heute, sagt Gabi Schubert, merkt sie die Erschöpfung, die die Jahre mit ihrem Sohn mit sich bringen, den sie nicht allein lassen können. Trotzdem will sie die Zeit nicht missen. Sie und ihr Mann lieben ihren Sohn über alles.
Seine Behinderung war für sie nicht das Problem, eher, wie andere damit umgingen. Sie erlebten immer wieder Enttäuschungen, ehemals enge Freunde mit ihren Kindern wandten sich ab.
Die drei Nachbarskinder durften nicht zu Matthias zum Spielen kommen. Mit der Zeit wurde die Kluft immer größer, als Matthias nicht mit den anderen in den Kindergarten und die Schule kam. Auch heute noch erleben sie, dass Bedienungen in Restaurants ihren Sohn einfach duzen und ganz überrascht reagieren, dass er die Speisekarte lesen kann.
Die Sorgen anderer Eltern liegen ihnen fern
Heute arbeitet die 57-Jährige in einem Kindergarten für behinderte Kinder. Das zehrt zusätzlich an ihren Kräften. Doch eine Beschäftigung in einem Regelkindergarten kann sie sich nicht mehr vorstellen. Die Sorgen dieser Eltern liegen ihr zu fern.
Gerold Ehinger, leitet seit elf Jahren die Tannenhag-Schule in Friedrichshafen. Er und seine Kollegen machen sehr positive Erfahrungen, wenn sie mit ihren Schülern in der Stadt unterwegs sind, zu Sportveranstaltungen in größere Städte reisen oder bei der Abschlussfahrt nach Berlin.
„Viele interessieren sich, fragen nach, woher wir kommen, sind sehr hilfsbereit und gehen auf uns zu“, sagt der 59-Jährige. Was früher Sonderschule hieß, nennt sich heute sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung im Bodenseekreis. Dabei stehen nicht nur die Kinder im Mittelpunkt, sondern auch die Beratung der Eltern.
Ein neues Leben ohne die Chance, sich darauf vorbereiten zu können
„Niemand ist darauf vorbereitet, dass er ein Kind hat mit sonderpädagogischem Förderbedarf“, sagt Ehinger. Für viele sei es ein Schock, und sie müssten erst lernen, mit der Situation umzugehen. In der Gesellschaft habe sich viel geändert, seit Behinderte viel präsenter im täglichen Leben seien, in offenen Wohnformen lebten und auch Arbeitsplätze abseits der Behindertenwerkstätten hätten.
Noch lange nicht am Ziel
„Menschen mit Behinderungen sind zunehmend akzeptierter in der Gesellschaft“, sagt er. „Doch wir sind noch lange nicht da, wo wir sein könnten.“ Manchmal berichten Eltern ihm von Äußerungen, solche Menschen müsste es doch nicht geben, die kosten den Staat viel Geld. Doch das seien seiner Erfahrung nach zum Glück eher Ausnahmen.