Die Schweiz ist anders. War sie das nicht schon immer – und auch ein wenig stolz darauf, diese neutrale Insel mitten in der Europäischen Union? Auch in der zweiten Corona-Welle schien das Land seine eigene Art des Umgangs damit gefunden zu haben. Vom Schweizer Mittelweg ist die Rede, der jene freut, die trotz Corona möglichst viele Freiheiten genießen wollen.

Auch das gibt es in Deutschland dieses Jahr kaum, in der Schweiz aber durchaus: Ein Blick über die Stände des Berner Weihnachtsmarkts. ...
Auch das gibt es in Deutschland dieses Jahr kaum, in der Schweiz aber durchaus: Ein Blick über die Stände des Berner Weihnachtsmarkts. Die Schweizer Regierung will nun ihre Maßnahmen weiter verschärfen. | Bild: Peter Klaunzer/Keystone/dpa

Deutscher Teil-Lockdown macht Schweizer Restaurants beliebt

Zum Beispiel bei einem Feierabend-Bier in einer Bar oder einem guten Essen im Restaurant den Abend ausklingen lassen, was auch immer mehr Menschen aus Konstanz, Waldshut oder Singen für sich entdeckt haben. Die sozialen Medien sind voll von Ausgeh-Tipps in der Schweizer Nachbarschaft.

Hierzulande blickt man verblüfft auf die Nachbarn. Im deutschen Boulevard war bereits vom Wunder der Schweiz zu lesen, in Anlehnung an das Fußball-Wunder von Bern 1954.

Der deutsche Stürmer und Kapitän Fritz Walter (Mitte oben) und sein Teamgefährte Horst Eckel (rechts) werden nach dem Triumph im ...
Der deutsche Stürmer und Kapitän Fritz Walter (Mitte oben) und sein Teamgefährte Horst Eckel (rechts) werden nach dem Triumph im Fußball-WM-Finale im Berner Wankdorfstadion von begeisterten Anhängern am 4. Juli 1954 vom Spielfeld getragen. | Bild: Archiv dpa

Schließlich sanken die Infektionszahlen und das ganz ohne Teil-Lockdown.

„Das Wunder gibt es nicht“

Nur: „Das Wunder gibt es nicht“, sagt Simon Gehren.

Der Schweizer Simon Gehren hat das Projekt #CoronaZero gegründet, das sich für eine strikte Eindämmung des Coronavirus‘ einsetzt. ...
Der Schweizer Simon Gehren hat das Projekt #CoronaZero gegründet, das sich für eine strikte Eindämmung des Coronavirus‘ einsetzt. Er organisiert mit Mitstreitern außerdem regelmäßig Corona-Mahnwachen in Schweizer Großstädten, um der Verstorbenen zu Gedenken. | Bild: privat

Der Jurist hat in der Schweiz das Projekt #CoronaZero gegründet, das sich für eine strikte Eindämmung des Virus einsetzt. Mit seinen Zweifeln am angeblichen Wunder ist er nicht allein. Der Zürcher Medizinhistoriker Flurin Condrau forscht unter anderem zur Geschichte von Pandemien und sagt: „Die sinkenden Fallzahlen gehen auf jene Kantone zurück, die einen härteren Corona-Kurs fahren.“

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Gemeint ist insbesondere die französischsprachige Westschweiz. Dort wurde vor einigen Wochen auf explodierende Fallzahlen reagiert, unter anderem mit Schließung von Bars und Restaurants oder eingeschränkter Personenzahl bei privaten Treffen. Die Fallzahlen sanken in der Folge.

Sieben-Tage-Inzidenz der Schweiz doppelt so hoch wie Baden-Württemberg

Zuletzt lag die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfizierten der vergangenen sieben Tage pro 100.000 Einwohner, in der Schweiz jenseits der Marke von 300. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg pendelte dieser Wert um die 150. (Zahlen vom 8. Dezember)

Dass die zwischenzeitlich positive Entwicklung in der Schweiz wenig wundersam war, wird durch die jüngste Ansage von Gesundheitsminister Alain Berset in Richtung Deutschschweizer Kantone untermauert: Wenn die dortigen Regierungen jetzt nicht mit deutlichen Einschränkungen reagieren, werde der Bund aktiv.

Gesundheitsminister setzt Kantonsregierungen unter Druck

In der Schweiz, deren Stolz auf den Föderalismus und Identifikation mit dem eigenen Kanton ungleich höher ist als in Deutschland, wurde Bersets Ultimatum fast schon als skandalös bewertet. Entsprechend verschnupft reagierten einige der politisch Verantwortlichen zunächst.

Die Mehrheit der kritisierten Kantone gab dem Druck des Gesundheitsministers schließlich nach und war zu schärferen Maßnahmen bereit, wie Schweizer Medien berichteten. Im Thurgau wurde beispielsweise die nächtliche Sperrstunde verlängert und eine Home-Office-Pflicht eingeführt. Der Aargau sah für strengere Regeln dagegen zunächst keine Notwendigkeit – obwohl dort derzeit mehr als 90 Prozent der Intensivbetten belegt sind und die Zahlen der Neuinfizierten wie Todesfälle kürzlich sogar leicht stiegen.

Die Lage solle im Laufe der zweiten Dezember-Woche neu bewertet werden, kündigte der Aargauer Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati an.

Aktivisten sprechen von „führungsloser“ Regierung

Zurück zu Corona-Aktivist Simon Gehren, den die Worte des Gesundheitsministers wenig beeindrucken. Er erlebe „die Regierung als führungslos“, sagt er im Gespräch mit dem SÜDKURIER. „Im Umgang mit dem Coronavirus kann es keinen Mittelweg geben. Es braucht den klaren politischen Willen und ein Bekenntnis der Regierung, bevor man überhaupt über konkrete Maßnahmen spricht.“

Das Bekenntnis müsse lauten: Das Coronavirus muss ausgelöscht werden, der Weg zu diesem Ziel ist die strikte Eindämmung. „Wer jeden Tag seine Ziele anpasst, hat keine klare Strategie“, sagt Gehren.

Schweizer Medizinhistoriker kritisiert: Politik wirkt improvisiert

Der Zürcher Medizinhistoriker Flurin Condrau sieht das ähnlich. „Eine Erfolgsgeschichte sieht jedenfalls anders aus“, meint er. Zwar merkt er an, dass sein Heimatland „relativ gut durch die erste Welle durchgekommen ist“ und es wohl deshalb weder eine größere Zahl Covid-Leugner noch eine Partei gebe, die dazu ermuntern würde.

Flurin Condrau beim Zoom-Gespräch mit SÜDKURIER-Autor Benjamin Brumm. Condrau ist Medizinhistoriker aus Zürich und forscht unter anderem ...
Flurin Condrau beim Zoom-Gespräch mit SÜDKURIER-Autor Benjamin Brumm. Condrau ist Medizinhistoriker aus Zürich und forscht unter anderem zur Geschichte der Pandemien. | Bild: Brumm, Benjamin

„Aber die Kommunikation der Regierung ist problematisch. Alle 14 Tage werden die Regeln geändert, und dies noch einmal heruntergebrochen auf einzelne Kantons-Entscheidungen: Das ermüdet die Bürger und gibt ihnen das Gefühl, in der Politik werde nur improvisiert.“

Vergleich zu Eugenik: Hierarchie der Bevölkerung?

Für Schlagzeilen hatte Condrau zuletzt gesorgt, weil er – und neben ihm weitere Historikern – vor Zügen der Eugenik in der Schweizer Corona-Politik warnte. „Zugegeben, ich weiß nicht, ob ich den Begriff heute noch einmal wählen würde, weil er sehr viel Sprengkraft birgt“, sagt er gegenüber dem SÜDKURIER.

Besonders im deutschsprachigen Raum wird Eugenik direkt mit der Rassenlehre der Nazis gleichgesetzt. Entstanden ist die Theorie jedoch schon Ende des 19. Jahrhunderts, zu Beginn des 20. war sie europaweit verbreitet und wurde vielfach diskutiert.

Pandemie betrifft alle Menschen

Flurin Condrau erklärt seinen Vergleich: „Er spiegelt die Stimmung der Bevölkerung und in Teilen der Politik wider: Es ist ja nicht ganz so schlimm mit Corona, wenn nur alte Menschen sterben.“ Für ein öffentliches Gesundheitswesen seien jedoch alle Menschen gleich, „weil eine Pandemie uns alle betrifft“, sagt Condrau. Er fragt daher: „Was ist das für ein eine Pandemie-Politik, die die Bevölkerung hierarchisiert und bestimmte Gruppen als irgendwie weniger wichtig annimmt?“

Corona-Mahnwachen in Bern, Zürich und Basel

Für Simon Gehren und seine Mitstreiter, es klang bereits an, eine bedauernswerte; eine, die auf dem Weg ist, die Menschlichkeit aus den Augen zu verlieren. Bereits Ende November entzündete eine Gruppe von Privatleuten um Gehren und Roman Bolliger, der sonst in Fragen des Klimaschutz berät, auf dem Berner Bundesplatz 3575 Kerzen. Sie sollten an die damalige Zahl der Corona-Toten der Schweiz erinnern.

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Corona-Mahnwache auf dem Basler Münsterplatz Video: @CoronaMahnwache

„Mit der Organisation der Mahnwachen wollen wir einen Raum für Trauer schaffen. Wir wollen zeigen: Wir sind traurig über die vielen Toten, die es in der Schweiz durch das Coronavirus gibt“, sagt Simon Gehren. Es folgten Mahnwachen in Basel, Zürich und erneut in der Schweizer Hauptstadt.

In der Schweiz haben viele Skigebiete geöffnet. Das wird auch von vielen Skifahrer, angenommen, hier eine Piste im Walliser Skigebiet ...
In der Schweiz haben viele Skigebiete geöffnet. Das wird auch von vielen Skifahrer, angenommen, hier eine Piste im Walliser Skigebiet Verbier. | Bild: Jean-Christophe Bott/Keystone/dpa

Die Ski-Gebiete bleiben wohl offen

Und es wurden mehr Kerzen: Kurz nach dem Nikolaus-Tag meldeten die Schweizer Behörden 5422 Verstorbene seit Ausbruch der Pandemie. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl sind das fast dreimal mehr als in Deutschland. Und trotzdem könnte dort auf das Staunen über das Schweizer Corona-Wunder die Vorfreude auf weiterhin geöffnete Ski-Gebiete in den Weihnachtsferien folgen.