Es ist ein Tag im Frühsommer 2022, als ein älteres Paar an der Pforte des Landtags in Stuttgart Einlass begehrt. Der Mann hält einige Seiten bedrucktes Papier in der Hand, auf denen Passagen mit Rotstift angestrichen sind. Es ist das Gesetz zum neuen Landtagswahlrecht, das die Abgeordneten im April beschlossen haben.
„Zu wem muss ich gehen, wenn ich dieses Gesetz ändern will?“ fragt der Senior den verdutzten Pförtner. Der kann zwar keinen Einlass gewähren und selbst keine Abhilfe verschaffen, verspricht aber, Papier und Protest weiterzugeben.
Zwei Jahre später, an einem Novembernachmittag im Jahr 2024, erinnern sich Dieter Distler, 81, und seine Lebensgefährtin Waltraud Weber, 73, beim Gespräch in ihrem Haus in Bietigheim-Bissingen an diesen Moment an der Pforte des Landtags. Es war die Geburtsstunde des Volksbegehrens „Landtag verkleinern“. „Ihres“ Volksbegehrens.
Am 10. Dezember endet die erste Frist
In den kommenden Wochen, bis Mitte Februar 2025, entscheidet sich, ob Erfolg haben wird, was dort an der Landtagspforte seinen Ausgang nahm. Am 10. Dezember endet die Frist zur Unterschriftenabgabe für das Volksbegehren direkt auf den Rathäusern, und am 11. Februar 2025 die Frist, bis zu der noch frei gesammelte Unterschriften eingereicht werden können.
Von den erforderlichen 770.000 Unterschriften – was zehn Prozent der Wahlberechtigten in Baden-Württemberg entspricht – ist die Initiative um Distler und Weber derzeit ersten Auswertungen zufolge noch sehr weit entfernt. Aber von Entmutigung bei ihnen nichts zu spüren.
Initialzündung bei der Zeitungslektüre
Sie seien da etwas blauäugig herangegangen, räumen sie ein. „Wir wussten ja nichts über Volksbegehren“, sagt Distler und erklärt, was ihn antrieb. „Ich hatte zwei Artikel in der Zeitung gelesen. Der eine hieß: ‚Kostenexplosion mit Ansage‘, da ging es darum, dass der Landtag mit dem neuen Wahlrecht viel größer und viel teurer werden könnte.
Und im anderen ging es darum, dass sich das Kultusministerium freut, über die Sommerferien fünf Millionen Euro bei den Lehrerstellen einsparen zu können“ sagt Distler. „Und dann habe ich gesagt: Da müssen wir was machen.“

„Er hatte gerade kein anderes Projekt“, sagt seine langjährige Lebensgefährtin Weber. Was eigentlich nicht stimmt. Aber die zwei anderen großen Leidenschaften des hellwachen 81-Jährigen – Ahnenforschung sowie eine umfassende Bleisatz-Druckwerkstatt und die Herstellung von Gedicht-Buchdrucken in Handarbeit – kamen zuletzt etwas kurz.
Denn Distler machte sich an die Arbeit, das mögliche Anwachsen des Landtags samt Kostenexplosion noch zu verhindern – mit aller Energie, Konsequenz und Detailbegeisterung, die ihn schon sein ganzes Leben lang antreiben.
Wacher Geist mit vielfältigen Interessen
Distler, seit Jahrzehnten in Bietigheim zuhause, stammt aus dem bayerischen Baudenbach bei Neustadt/Aisch. In München studierte er einst Chemie, promovierte, ging in die Forschung beim Chemiekonzern BASF nach Ludwigshafen, machte eine Karriere, die ihn um die Welt führte und später als Bereichsleiter einen Milliardenumsatz verantworten ließ.
Ab Mitte Sechzig arbeitete er im formalen Ruhestand als Berater unter anderem für das Max-Planck-Institut und leitender Experte weiter an internationalen Projekten; auch heute reist er noch immer um die Welt und pflegt international den Austausch mit wachen Geistern.
Der 81-Jährige ist keiner Partei verpflichtet. „Ich würde nicht in die Politik gehen, da passe ich nicht hin“, sagt er. „Ich bin ein unabhängiger Kopf, wie Boris Palmer.“
Die Landespolitik ignoriert ihn in weiten Teilen
Und mit diesem unabhängigen 81-jährigen Kopf machen die Verantwortlichen in der Landespolitik derzeit Bekanntschaft, wenngleich nur aus der Distanz – und versuchen, das Volksbegehren nach Kräften zu ignorieren oder die zugrunde liegenden Berechnungen zu bestreiten. „Es hat mich noch niemand der Verantwortlichen direkt angesprochen, den Kontakt gesucht“, sagt Distler.
Mit einer kleinen Unterstützerschar aus juristischen Laien schaffte es der frühere Manager, im Rahmen seines Antrags auf ein Volksbegehren zur Landtagsverkleinerung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der „genehmigungsfähig“ war, wie er sagt – und dem im Juni 2024 schließlich vom Innenministerium stattgegeben wurde.

Distler schaffte damit, womit die Südwest-FDP, die ebenfalls eine Vergrößerung des Landtags verhindern will, mit ihrem Antrag scheiterte. Seitdem wird Distlers Volksbegehren von den Liberalen unterstützt, vor allem mit dem kürzlich zurückgetretenen Landeschef Michael Theurer habe es da einen intensiven Austausch gegeben, sagt Distler.
Hindernisse bei der Unterschriftensammlung
Das Verfahren zum Volksbegehren selbst lässt ihn immer mehr den Kopf schütteln. Eine digitale Abstimmung etwa sei nicht möglich. Die Unterschriftensammlung selbst ist für eine solche Initiative mühsam, aus dem ganzen Land gibt es Zuschriften und Rückmeldungen über Hindernisse oder schlicht Unwissen auf den Rathäusern.
„Es gibt keine Verwaltungsvorschrift, wie das zu handhaben ist“, kritisiert er. „Ich halte es für einen Skandal, dass man etwa in Stuttgart zum Unterschreiben in den vierten Stock des Statistischen Landesamtes muss.“ Auch das Sammeln an Ständen ist mühsam, auch wenn die Zahl der aktiven Unterstützer zuletzt erheblich gewachsen ist.
Keine Spenden erlaubt, dafür fließt sein eigenes Geld
Spenden für mehr Öffentlichkeitsarbeit und Werbung für das Volksbegehren darf der eigens gegründete Verein der Initiative nicht eintreiben, weil das zuständige Finanzamt den Antrag auf Gemeinnützigkeit seit Monaten unbearbeitet lässt.
Und auch sonst hat Distler Zweifel daran, wie ernst das mit der Bürgerbeteiligung eigentlich gemeint ist. „Kein Politiker will, dass sich das Volk beteiligt – abgesehen vom Kreuz auf dem Wahlzettel alle vier oder fünf Jahre. Wir sollen zehn Prozent der Stimmen erreichen“, sagt Distler, der privat nach eigenen Angaben mindestens 5000 Euro für die Initiative aufgewendet hat. „Aber wie viel Geld haben Parteien zur Verfügung, um zehn Prozent der Stimmen bei einer Wahl zu erreichen?“
Was ihn antreibt, ist auch der Gedanke an die nächsten Generationen. „Wir halsen den Jungen schon so viel auf, nicht auch noch das“, sagt er. Und fällt er in ein Loch, wenn am Ende feststeht, dass es nicht gereicht hat? „Nein“, sagt Distler mit Überzeugung. „Selbst, wenn es nicht gelingt, ist es die Demokratie wert, dafür gekämpft zu haben.“