Es war der schwerste Schlag gegen die Mafia am Bodensee, seit sie sich vor Jahrzehnten dort festgesetzt hat: Unter dem Decknamen „Operation Platinum“ durchsuchten 800 Einsatzkräfte in den frühen Morgenstunden des 5. Mai 2021 zeitgleich Dutzende Wohn- und Geschäftsräume in Überlingen, Radolfzell, Baden-Baden und vielen weiteren Orten von Norddeutschland bis Süditalien. 33 Haftbefehle wurden vollstreckt und Wertsachen im Wert von sechs Millionen Euro beschlagnahmt.
Der Chef der Konstanzer Staatsanwaltschaft, Johannes-Georg Roth, sprach damals von einem „schlechten Tag für die dunkle Seite der Macht“ und Verbrechen, von denen viele nicht glauben, dass sie in Deutschland existieren.

Fast genau ein Jahr nach den Anti-Mafia-Razzien an 86 Orten hat die Staatsanwaltschaft Turin nun Anklage gegen 40 mutmaßliche Mafiosi erhoben. Darunter sind auch zwei Bandenköpfe, die vom Bodenseeraum aus agierten, lange dort lebten, aber in Italien festgenommen wurden: Sebastiano S. und sein Schwager Sebastiano G., den seine Freunde „Küsschen“ – auf Italienisch „Bacetto“ – nennen.
Die beiden Italiener sollen die süddeutsche Zelle innerhalb der kalabrischen Mafia-Organisation 'Ndrangheta angeführt haben. Die Strafverfolger werfen ihnen vor, die Leitfiguren einer kriminellen Vereinigung zu sein, im großen Stil mit Drogen gehandelt, Geld gewaschen, Menschen erpresst und Umsatzsteuer in Millionenhöhe hinterzogen zu haben.
Erste Urteile in Konstanz
Überraschend ist, dass es in Zusammenhang mit den Anti-Mafia-Razzien vom 5. Mai 2021 bereits zu zwei Verurteilungen in Konstanz gekommen ist: Salvatore G., ein Verwandter von Sebastiano G. und ebenfalls lange in Überlingen wohnhaft, soll von Januar 2017 bis Mai 2021 in acht Fällen 120.000 Euro aus dem Drogenverkauf der Bodensee-Zelle der 'Ndrangheta entgegen genommen und an „Geschäftspartner“ weitergeleitet haben.

Außerdem soll er im April und Mai 2019 zwei Drogenverkäufe von insgesamt sechs Kilo Kokain eingefädelt haben. Das Geschäft kam jedoch nicht zustande, weil die italienische Polizei eine große Menge Kokain im kalabrischen Hafen Gioia Tauro beschlagnahmt hatte. Dennoch verurteilte das Amtsgericht Konstanz den 33-Jährigen wegen Drogenhandel und Geldwäsche in Tateinheit mit Unterstützung einer ausländischen kriminellen Vereinigung zu drei Jahren und sechs Monaten Gefängnis.
Kokain im Wert von zwei Millionen Euro
Ähnlich erging es einem mutmaßlichen Unterstützer des süddeutschen Mafiaclans. Der in Belgien lebende Rumäne Vasile P. soll im Juli 2018 nach Überlingen zu einem Treffen mit einem italienischen 'Ndrangheta-Mitglied gereist sein, um ein Kokaingeschäft in Amsterdam vorzubereiten. Dort wollte die kalabrische Mafia einer kolumbianischen Drogenbande 62 Kilogramm Kokain zum Preis von knapp zwei Millionen Euro abkaufen – so der Vorwurf.

„Das Geschäft war verbindlich vereinbart, kam aber nicht zustande, weil das Kokain nicht geliefert werden konnte“, sagt Franz Klaiber, Direktor des Amtsgerichts Konstanz dem SÜDKURIER. Dennoch erhielt der 53-jährige Angeklagte Ende 2021 wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Drogen in nicht geringer Menge eine Haftstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten. Da beide Angeklagte Berufung anmeldeten, sind die Urteile nicht rechtskräftig und werden voraussichtlich ab Juni neu vor dem Landgericht Konstanz verhandelt werden.
Albanische und Kolumbianische Drogenbanden
Das Bodensee-Engagement der 'Ndrangheta lässt sich bis ins Jahr 2010 zurückverfolgen, als Sebastiano S. zusammen mit einem weiteren Kalabrier ein Restaurant in bester Lage an der Uferpromenade von Überlingen übernimmt, später kommt ein weiteres im Zentrum von Radolfzell hinzu. Die Betreiber der Restaurants wechseln im Laufe der Jahre, sind aber nach bisherigen Erkenntnissen immer aus der gleichen Clique von Italienern – bis heute.

Obwohl Sebastiano „Bacetto“ G. seit 2012 in Italien gesucht wird, operiert er lange unauffällig als Gastronom sowie Obst- und Gemüsehandler in Deutschland, von wo aus er den Geldfluss für seine Familie sicherstellen sollte. Von Überlingen und dem kleinen Stockacher Teilort Seelfingen aus soll er Kokaingeschäfte mit rumänischen, albanischen und kolumbianischen Banden organisiert haben, die eine Schlüsselrolle im Drogenhandel rund um die Häfen von Hamburg, Antwerpen und Rotterdam spielen.
Der Kronzeuge im Gefängnis
2015 packt ein langjähriger 'Ndrangheta-Schmuggler aus. Ein Jahr später kooperiert ein ehemaliger Boss des Clans mit den Behörden. „Dieser Kronzeuge hat viel ausgesagt und war bereit, Angaben zu machen über Personen, die in Deutschland sitzen“, sagt Roth.
Der Leiter der Konstanzer Staatsanwaltschaft konnte den Kronzeugen dank einer Ermittlungsgruppe, die von Eurojust in Den Haag koordiniert und finanziert wird, in einem Gefängnis nahe Vicenza befragen und die Aussagen für seine Ermittlungen verwerten. „Eurojust macht es möglich, effizient über Grenzen hinweg zu verfolgen, Kosten zu minimieren und Ermittlungen so lange zu führen, wie es nötig ist, ohne die Budgets der Polizei zu belasten“, sagt Roth und spricht von äußerst aufwändigen Ermittlungen, beispielsweise für die Übersetzung von Kalabrisch.
Höchststrafe von 20 Jahren
Der Abschlussbericht der gemeinsamen Gruppe, die in beiden Ländern drei Jahre lang verdeckte Ermittlungen, Observationen und Telefonüberwachungen durchgeführt hat, habe 1200 Seiten betragen – ein Drittel davon kam laut Roth aus Konstanz. Auf Grundlage dieses Berichts habe der italienische Staatsanwalt Valerio Longi die richterlichen Haftbefehle bewilligt bekommen, die zu den Razzien am 5. Mai 2021, Dutzenden Festnahmen und nun zu den 40 Anklagen führten.

„Derzeit finden in Turin vorbereitende Anhörungen statt“, sagt Staatsanwalt Roth, der sich mit seinen Kollegen in Italien regelmäßig austauscht und fließend Italienisch spricht. Bei einer Einigung könnte es zu einem abgekürzten Gerichtsverfahren gegen die mutmaßlichen Mafiosi kommen, bei dem ein einzelner Ermittlungsrichter ohne Zeugen nach Aktenlage entscheidet.
In diesem Fall würde sich bei einer Verurteilung die mögliche Höchststrafe von 20 Jahren (in Deutschland sind es 15 Jahre) für die mutmaßlichen Bandenköpfe um ein Drittel reduzieren. Kommt es zu keiner Vereinbarung, wird ein herkömmliches Gerichtsverfahren mit Zeugen und drei Richtern stattfinden, das bei 40 Angeklagten Jahre dauern könnte. „Bis Ende Mai könnte klar werden, ob und wer sich in Turin auf ein abgekürztes Verfahren einlässt“, sagt der ranghöchste Konstanzer Staatsanwalt.
Strohmänner für systematische Insolvenz
Als zweites „Standbein“ neben dem Drogenhandel soll der süddeutsche 'Ndrangheta-Zweig Steuerbetrug in Millionenhöhe begangen haben, was in Konstanz aufgearbeitet wird. Die mutmaßlichen Mafiosi sollen Lebensmittel aus Italien importiert und an italienische Restaurants in Deutschland weiterverkauft haben, dabei aber die Umsatzsteuer unterschlagen und illegale Gewinne zurück nach Italien zurückgeschafft haben. Außerdem sollen die mutmaßlichen Mafiosi Druck auf die Gastronomen ausgeübt haben, die Lebensmittel zu bestimmten Konditionen zu kaufen.
Dabei sollen die Täter laut Staatsanwaltschaft Konstanz auch mit zehn bis zwölf Strohmännern gearbeitet haben. „Das Besondere ist die systematische Nutzung von vielen kleinen italienischen Restaurants. Es ist dann nicht mehr der einzelne kleine Pizzabäcker, der insolvent geht. Sobald wir die Systematik erkennen, wird nicht wegen Insolvenz, sondern Betrugs angeklagt“, sagt Roth.
Große Kiste mit Bargeld gesucht
Der leitende Staatsanwalt schätzt den Schaden für den deutschen Staat auf mehr als zwei Millionen Euro. Derzeit ermittelt die Kripo Friedrichshafen und die Steuerfahndung Ulm gegen 20 bis 30 Tatverdächtige. „Es ist eine quälende Arbeit Steuerhinterziehung nachzuweisen und das wird uns noch länger beschäftigen“, so Roth.
Eine der spannendsten Erkenntnisse für die Behörden war, dass die mutmaßlichen Mafiosi immer nur mit so viel Buchgeld wie nötig arbeiten, um die laufenden Ausgaben, wie Rechnungen und Mieten, zu überweisen. Hintergrund ist wohl, dass Buchgeld beschlagnahmt werden könnte. „Bargeld muss man erst einmal finden“, erklärt Roth. Die italienischen Behörden hätten deshalb auch im Gebirge hinter dem 'Ndrangheta-Hauptort San Luca in Kalabrien nach einer großen Kiste mit Bargeld gesucht, aber nichts gefunden.