Sie gehört zu den mächtigsten Mafia-Organisationen der Welt und ist auch am Bodensee aktiv, wie die spektakulären Razzien in Überlingen, Radolfzell und vielen weiteren Orten im Mai 2021 gezeigt haben: die ‚Ndrangheta. 800 Einsatzkräfte durchkämmten damals 87 Wohn- und Geschäftsräume von Süditalien bis Norddeutschland, beschlagnahmten Gegenstände im Wert von sechs Millionen Euro und nahmen 33 mutmaßliche Mafiosi fest.

Fast genau ein Jahr später hat die Staatsanwaltschaft Turin Anklage gegen 40 mutmaßliche Mafiosi erhoben – der SÜDKURIER berichtete. Nach zahlreichen Anhörungen haben sich nun 22 der 40 Angeklagten mit der Justiz auf Schnellverfahren geeinigt, bei denen ein einzelner Ermittlungsrichter nach Aktenlage und ohne Zeugen seine Urteile fällen wird. Hintergrund ist, dass die Beschuldigten damit ihre drohenden Gefängnisstrafen um etwa ein Drittel verkürzen können.

Von Stockach bis San Luca

Unter den möglichen Nutznießern sind auch sieben Mitglieder der Familie G. aus der kalabrischen ‚Ndrangheta-Hochburg San Luca, die laut SÜDKURIER-Recherchen bis heute in Überlingen am Bodensee ein Restaurant führt. Diese sieben Männer sollen nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft Turin im Zentrum des europaweit organisierten Drogenhandels gestanden haben und eng mit den ‚Ndrangheta-Chefpaten in Kalabrien verbunden sein.

Von Überlingen aus agierte ein mutmaßlicher Mafia-Clan.
Von Überlingen aus agierte ein mutmaßlicher Mafia-Clan. | Bild: Jürgen Gundelsweiler

Unter den sieben angeklagten Familienmitgliedern mit den höchsten Strafanträgen sind auch der mutmaßliche Kopf der süddeutschen ‚Ndrangheta-Zelle, Sebastiano „Bacetto“ G., sowie seine beiden Brüder Giovanni G. und Domenico G. Sebastiano 'Bacetto' G. lebte lange mit seiner Familie im beschaulichen Stockacher Ortsteil Seelfingen und pendelte zur Arbeit nach Überlingen, wie SÜDKURIER-Recherchen vor Ort ergaben.

Im kleinen Stockacher Ortsteil Seelfingen haben mehrere mutmaßliche Mafiosi gewohnt und eine Lagerhalle gemietet.
Im kleinen Stockacher Ortsteil Seelfingen haben mehrere mutmaßliche Mafiosi gewohnt und eine Lagerhalle gemietet. | Bild: René Laglstorfer

185 Jahre Haft beantragt

Der Turiner Staatsanwalt Valerio Longi fordert für das Brüder-Trio jeweils 20 Jahre Haft, wobei bereits ein Drittel der Strafe aufgrund der Einwilligung zu einem Schnellverfahren abgezogen sind. Die Strafanträge für die weiteren vier Familienmitglieder reichen von knapp 18 Jahren bis zu etwas weniger als neun Jahren.

So könnte Sebastiano „Bacetto“ G., der Kopf der deutschen Mafia-Zelle in Überlingen und Seelfingen, aussehen.
So könnte Sebastiano „Bacetto“ G., der Kopf der deutschen Mafia-Zelle in Überlingen und Seelfingen, aussehen. | Bild: Claudio Capellini/IrpiMedia/OCCRP

Die Anklagebehörde in Turin fordert insgesamt 185 Jahre Gefängnis für 19 mutmaßliche Mafiosi, die einem verkürzten Schnellverfahren zugestimmt hatten. Für drei Beschuldigte hatte die Staatsanwaltschaft Freisprüche beantragt, da ihre Taten „kein Verbrechen darstellen“ würden. Darunter ist auch die Schwiegermutter Maria C. von Gianfranco V. Für ihn hatten die Ankläger knapp sechs Jahre Gefängnis gefordert.

Vorwurf: Drogenhandel, Erpressung, Geldwäsche

Die italienischen Ermittler werfen den mutmaßlichen Mafiosi vor, Kokain im großen Stil aus Belgien, Deutschland, den Niederlanden und Spanien nach Italien eingeführt zu haben, um es unter anderem auf Sardinien und Sizilien mit großen Gewinnen zu verkaufen.

So stellt sich ein Künstler ein weiteres Familienmitglied des mutmaßlichen Mafia-Clans vor: Giovanni G.
So stellt sich ein Künstler ein weiteres Familienmitglied des mutmaßlichen Mafia-Clans vor: Giovanni G. | Bild: Claudio Capellini/IrpiMedia/OCCRP

Außerdem soll der Mafia-Clan Erlöse aus Handels- und Gastronomiebetrieben in Deutschland und Italien rein „gewaschen“ und Steuern hinterzogen haben. Viele der Verdächtigen sollen außerdem Drogengelder in Baufirmen, Restaurants und Bars investiert und Geschäftspartner mit mafiösen Praktiken erpresst haben.

Erste Urteile für Spätsommer erwartet

Auf die Schliche kam die italienische Justiz der mutmaßlichen ‚Ndrangheta-Zelle im Turiner Vorort Volpiano bereits im Jahr 2016, nachdem der inhaftierte Domenico A. – selbst Mitglied einer bekannten Familie der Unterwelt – als Kronzeuge ausgepackt hatte. Dadurch konnten die Ermittler, unter denen auch Konstanzer waren, die illegalen unternehmerischen Tätigkeiten der ‚Ndrangheta in Süddeutschland und Italien überwachen sowie Beweise sichern.

Die ersten möglichen Verurteilungen in dem Mammutfall werden in Turin im Herbst erwartet, wie Staatsanwalt Valerio Longi dem SÜDKURIER auf Anfrage mitteilte. Für alle Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung.