Nicht nur zwischen Kiew und Berlin dreht sich die Achse der politisch-militärischen Solidarität, sondern auch zwischen Kiew und Stuttgart. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, stehen gemeinsam im Schatten senkrecht aufragender wüstensandfarben lackierter Startbehälter, aus der die neue Wunderwaffe vom Bodensee, die Abfangrakete Iris-T SLM, in den Himmel steigen könnte.

Beide Männer haben ernste Gesichter. Aber im Mundwinkel zeichnet sich auch ein zufriedenes Lächeln ab, wenn man sich vor laufenden Kameras und Mikrofonen der Tatsache versichert, dass die Waffe, die hier in Überlingen vom Rüstungshersteller Diehl Defence entwickelt und gebaut wird, in Kiew täglich Leben rettet.

„Dass meine Eltern, die in Kiew leben, nicht von russischen Raketen getötet werden, dass tausende Ukrainer nachts wieder ruhig schlafen können, verdanken wir der Rakete vom Bodensee“, sagt der Botschafter. Oleksii Makeiev schließt ganz Baden-Württemberg in seinen Dank mit ein. Denn die Ingenieure von Diehl und anderen Firmen, die Komponenten für die Luftabwehrsysteme zuliefern, sind auch in Ulm, Heilbronn und Laupheim in Oberschwaben zuhause.

Fast täglich Raketen abgewehrt

Weil mit der Hightech-Waffe aus Überlingen fast täglich russische Drohnen und Marschflugkörper zielsicher ohne Fehlschüsse vom Himmel geholt werden, weil so nicht nur Menschen, sondern auch wertvolle Infrastruktur wie Energiezentralen und Wasserwerke geschützt werden, hat der Botschafter Diehl Defence als erstes Unternehmen ausgewählt, um sich stellvertretend für das von ihm vertretene Volk zu revanchieren.

Der Vorstandschef von Diehl Defence, Thomas Rauch, spricht denn auch von „Stolz“ auf das Produkt und hoher Motivation aller 1200 Mitarbeiter am Standort.

Helmut Rauch, Vorstandsvorsitzender von Diehl Defence, spricht in seinem Firmensitz in Überlingen über die Firma Diehl und deren Produkte.
Helmut Rauch, Vorstandsvorsitzender von Diehl Defence, spricht in seinem Firmensitz in Überlingen über die Firma Diehl und deren Produkte. | Bild: Christoph Schmidt

Seit der russische Angriffskrieg in der Ukraine tobt, hat die Überlinger Belegschaft verinnerlicht, dass ihre Arbeit nicht nur ein gutes Gehalt einbringt, den Umsatz steigert und den Gewinn des Familienunternehmens mehrt. Es geht um mehr: Der Sinn der Arbeit in den Konstruktionsbüros und Werkhallen steht jedem vor Augen.

Jeder Iris-T-Flugkörper ist in diesem Krieg mehr wert als Gold. Wenn er eine russische Rakete zerstört, werden keine Frauen, Männer und Kinder unter rauchenden Trümmerhaufen begraben. Die Kosten für eine verschossene Iris-T – je nach Konfiguration zwischen 500.000 und 1 Million Euro – zahlen auf ein großes Überlebenskonto ein.

Helmut Rauch sagt es in der Sprache der Techniker und Militärs: Die Ukrainer hätten, sagt er, während eines nächtlichen russischen Angriffs 13 anfliegende Marschflugkörper „im Sekundentakt“ ausgeschaltet. Hier wirkt „rein deutsche Technik“, so Rauch, mit der erfolgreichen Ausbildung der ukrainischen Bediener zusammen. Auftretende Probleme am Waffensystem im Einsatz werden mithilfe einer Hotline nach Überlingen gelöst.

Wie die Ukrainer die Iris-T einsetzen

Die Ukrainer beherrschen, wie man bei Diehl hört, die Iris-T SLM, die einen Aktionsradius von 40 Kilometern abdeckt, professionell. Daher können sie nun vermeiden, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Will heißen: Sie konzentrieren sich auf die russischen „Kalibr“-Marschflugkörper und überlassen etwa die ungefährlicheren „Shahed“-Drohen aus iranischer Fertigung den deutschen Gepard-Flakpanzern zum Abschuss. Auch das hilft, teure und kostbare Flugkörper zu sparen.

Dass deren Produktion hochgefahren werden muss und wird, betont Diehl-Manager Rauch. „Wir streben die Fertigung von 500 Iris-T SLM jährlich an“, sagt er. Dazu seien allerdings Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe in den Standort Überlingen notwendig. Platz genug dafür ist da, einzelne Gebäude werden bereits aufgestockt.

Schon 300 Mitarbeiter eingestellt

Am Konferenztisch fragt Winfried Kretschmann, wie es um Fachkräfte bestellt sei, denn die werden bekanntlich überall gesucht. Helmut Rauch kann sich allerdings nicht nur gelassen, sondern für die Zukunft hoch optimistisch geben. In diesem Jahr habe man bereits 300 neue Mitarbeiter eingestellt, die Zahl der Bewerbungen sei hoch. Das liegt zum einen am Auftrieb der Rüstungsindustrie, der sich bereits vor dem Angriff auf die Ukraine eingestellt hat, andererseits auch – wie Rauch bemerkt – an einem „neuen positiven Image“ der Branche nach dem russischen Überfall und dem Ausbau der Waffenhilfe an die Ukraine.

Botschafter Makeiev sind diese Nebenwirkungen bewusst. Er hat bereits mehreren deutschen Rüstungsfirmen einen Besuch abgestattet, allerdings alle außerhalb von Baden-Württemberg. Die Visite bei Diehl Defence mit Winfried Kretschmann zu unternehmen, war, wie Makeiev sagt, seine Idee. Der Regierungschef hatte es für die Anreise nicht weit. Er ist im großen Elektro-Mercedes von Salem hergefahren, wo er in Begleitung seine Frau Gerlinde die (wegen Corona nachgeholte) Feier des 100. Gründungstags der Schlossschule begleitet hat. Von hoher Bildung zu High tech.

Zu Gast auch bei der Artillerie

Dieser Begriff wurde von Kretschmanns Partei, den Grünen, einst im Landtagswahlkampf 1988 zu „Hai Tech“ verfremdet und zum Schreckensbild aufgebaut. Man landete damals bei kaum acht Prozent (die CDU kam auf 49). Nun sind die Grünen die Partei, die – allen voran Außenministerin Annalena Baerbock – für Waffenlieferungen an die Ukraine eintreten. So ist auch High Tech für die Grünen kein Angstbegriff mehr, allenfalls das filigrane Haifisch-Design auf Kretschmanns Krawatte könnte an die Haltung von einst erinnern.

Aber der Regierungschef zeigt feste Entschlossenheit, die Sache der Ukraine mit zu verfechten. Er erwähnt seinen Besuch beim Artilleriebataillon 295 in Stetten am kalten Markt, wo er die Ausbildung der Ukrainer an der Panzerhaubitze 2000 beobachten konnte.

Makeiev, Kretschmann und Rauch vor Raketen der Iris-T SLS Luftabwehr.
Makeiev, Kretschmann und Rauch vor Raketen der Iris-T SLS Luftabwehr. | Bild: Michel, Alexander

Nun steht Kretschmann inmitten einer kleinen Waffenschau und sagt: „Ich möchte nicht wissen, was mir passiert wäre, wenn ich vor fünf Jahren diesen Betrieb besucht hätte.“ Daran sehe man, dass das Thema Verteidigung in der Gesellschaft angekommen sei.