Leicht kräuselt sich die Wasseroberfläche des Seerheins, der sich einmal nicht in den schillerndsten Blautönen zeigt – es ist ein wenig bedeckt. Nicht zu heiß, aber trocken. Bestes Ruderwetter für Martin Stengele, der am Ruderclub Konstanz mit großer Sorgfalt ein Boot zu Wasser lässt. Vorsichtig einsteigen, die Ruder in Position bringen, die Füße ins Stemmbrett stecken, Blick zurück. Los geht‘s in Richtung Obersee.
Allein mit dem Wasser, der Sonne, unendlicher Weite
Noch wirkt es nicht ganz routiniert, was Stengele da macht. Irgendwann werden ihm die Bewegungen, die Handgriffe und Kniffs in Fleisch und Blut übergehen. Spätestens in anderthalb Jahren, wenn er zur großen Überquerung ansetzt – Atlantik, nicht Bodensee.
5500 Kilometer quer über den Ozean, zwischen 60 und 90 Tage allein mit dem Wasser, der Sonne, der Nacht und unendlicher Weite: Das wartet auf die Teilnehmer der Atlantic Challenge, die jedes Jahr im Dezember startet und von La Gomera (Spanien) nach Antigua in der Karibik führt.
Martin Stengele zählt zu den Verrückten, die sich das freiwillig antun. Dabei ist der 52-Jährige nicht gerade der Draufgänger-Typ, kein Adrenalin-Junkie. Ruhig und zurückhaltend wirkt der Mann, der aus Orsingen-Nenzingen stammt, bei der Begegnung mit der SÜDKURIER-Redakteurin. Er selbst beschreibt sich als eher vorsichtig. „Auf Achterbahn-Fahrten verzichte ich“, sagt er und lacht.
Was also treibt ihn an? Das Meer ist seine große Faszination. So wie andere kleine Jungs Feuerwehrmann oder Lokführer werden wollen, zog es Stengele immer aufs Meer. Kapitän wäre er gerne geworden, doch das ging nicht. Denn das hätte man studieren müssen – und dafür fehlte der Familie das Geld. Nach einem Sommerferienjob auf dem Frachtschiff nach Abschluss der Hauptschule schickten ihn die Eltern stattdessen zur Ausbildung.
Der dritte Beruf ist der richtige
Glas- und Fensterbauer ist Stengele im Erstberuf, später arbeitete er lange als Straßenbauer. Zwischendurch verpflichtete er sich noch für vier Jahre bei der Bundesmarine, Standort Olpenitz. Das Seefahren habe ihm gut gefallen, erzählt er, doch das habe den Job nur etwa zu einem Drittel ausgemacht. „Bundeswehr war nicht meins, aber es war eine schöne Erfahrung.“
Zurück an Land kam er in den 90ern zufällig über das damals noch neue Internet auf seinen heutigen Beruf – Sport- und Gymnastiklehrer. Zuvor war er sich der Möglichkeit gar nicht bewusst gewesen, dass man auch etwas mit Sport machen konnte, ohne studiert zu haben. Wie das eben so war in der Welt vor Google. Was Freunde oder das Berufsinformationszentrum einem nicht erzählt haben, waren unbekannte Welten. Heute arbeitet Stengele freiberuflich vor allem im Bereich Betriebssport.
Ein Dokumentarfilm bringt ihn auf die verrückte Idee
Auf die Idee der Atlantik-Überquerung brachte ihn der Dokumentarfilm „Wellenbrecherinnen – im Ruderboot über den Atlantik“, der die Geschichte von vier Hamburgerinnen und ihrer Teilnahme an der Atlantic Challenge erzählt. „Ich war gleich hin und weg“, sagt Stengele. Das wollte er auch machen.

An Fitness und mentaler Stärke mangelt es dem Sport-Mental-Coach nicht. Mit dem Rudern hat er allerdings erst im vergangenen Jahr begonnen. Zu Hause in Stuttgart setzt er sich auf die Rudermaschine, so oft er kann kommt er am Wochenende runter an den See und trainiert beim Konstanzer Ruderverein Neptun.
Stengeles Sorge gilt allerdings nicht primär der Rudertechnik. „Auf dem Atlantik wird es oft Wetterlagen geben, bei denen du froh bist, wenn du das Ruderblatt überhaupt ins Wasser bekommst.“

Ein Trainingscamp auf der nordfriesischen Insel Amrum hat ihm gerade einen leichten Vorgeschmack auf das gegeben, was da kommen könnte: sich meterhoch türmende Wellen, Windstärke sechs bis sieben. „Das war knackig. Mir hat es noch mal bewusst gemacht, dass das kein Sonntagsausflug wird. Die Natur nimmt keine Rücksicht.“
Container, Haie und andere Gefahren
Die Gefahren auf dem Atlantik werden noch mal ganz andere sein, so viel ist sicher. Container zum Beispiel, die vom Schiff fallen, halb unter der Wasseroberfläche treiben und für einen Ruderer, der ja rückwärts fährt, nur sehr schwer zu erkennen sind – zumal nachts.
Die können selbst ein hochseetaugliches Boot von einer dreiviertel Tonne Gewicht schwer beschädigen. Dazu kommt: Das Boot muss regelmäßig von Schnecken und Muscheln befreit werden, mit einem Schaber, von Hand – dazu muss der Ruderer sich ins tiefe Wasser begeben. Wenn da ein Hai angreift …
Das Boot kostet bis zu 90.000 Euro
„Hör auf!“, ruft Stengele. Ein paar Ängste plagen ihn nämlich schon. Die vor Haien und die Frage, ob er das nötige Geld zusammenbekommt. Solch ein hochseetaugliches Boot ist kostspielig, neu ist es für 90.000 Euro zu haben. Stengele spekuliert auf ein gebrauchtes, aber auch das schlägt mit 60.000 Euro zu Buche.
Was an freier Zeit übrig ist, verwendet er deshalb darauf, um Sponsoren zu werben, seine Homepage einzurichten, eine Broschüre zu gestalten. Kürzlich hat er einen kleinen Film über sein Vorhaben gedreht, mit Hilfe von Studenten. 28 Prozent der nötigen Summe habe er schon zusammen, ist auf www.martin-stengele.de zu lesen.

Was er ebenfalls dringend benötigt, ist ein Liegeplatz für das anzuschaffende Boot. Denn dieses ist zu schwer, um es noch mit Muskelkraft aus dem oder in den See zu kriegen.
Spektakuläre Rekorde im und auf dem Wasser
Eigentlich wäre Stengele gerne schon im nächsten Jahr gestartet, aber da war die Teilnehmerliste für die Atlantic Challenge schon voll. Aber auch bis 2024 sind noch jede Menge Vorbereitungen nötig: Die Veranstalter verlangen ein Funkzeugnis, ein Schiffssicherheitstraining, Navigationskenntnisse und eine Fortbildung für die Erste Hilfe auf See – auch wenn Stengele diese als Solo-ruderer vermutlich auf sich selbst anwenden müsste. Denn die Teilnehmer starten zwar gemeinsam auf La Gomera, aber danach kämpft jeder für sich – oder mit seiner Gruppe, nicht alle sind solo unterwegs.
Bis Hilfe zur Stelle ist, kann es dauern
Ein paar Sicherheitsvorkehrungen sind im Abenteuer Atlantik-Überquerung immerhin eingebaut. So verfügt jeder Teilnehmer über Satellitentelefon und Funk. Ein Arzt, von dem man sich Ratschläge holen kann, ist auf Stand-by. Im absoluten Notfall kann zudem der Notknopf ausgelöst werden.
Doch bis Hilfe zur Stelle ist, kann einige Zeit vergehen. Ist der in Not geratene Ruderer bis zu 250 Kilometer von der Küste entfernt, schickt der Veranstalter einen Hubschrauber. Weiter draußen wird die Seenotrettung aktiviert, sodass einem auch Frachtschiffe zu Hilfe kommen können. Bis der Segler des Veranstalters da ist, können ein bis zwei Tage vergehen.
Sechs bis sieben Meter lang und 140 Zentimeter breit ist das Boot, auf dem Stengele mehrere Wochen Tag und Nacht verbringen will. Es verfügt über eine Kajüte, in der man sich schlafen legen kann und wo man auch Zuflucht findet vor Extremwetter.
Im Orkan können sich auf dem Atlantik die Wellen über 20 Meter hoch auftürmen. Beruhigend, dass diese Nussschale von Boot trotzdem nicht kentern kann. Es kann zwar auf den Kopf gestellt werden, aber es ist so konstruiert, dass es sich von selbst wieder ins Lot bringt. Damit einen kein Sturm vom Boot wirbelt, ist der Ruderer immer angegurtet.
In größter Not gibt es noch ein Rettungsfloß
Und wenn das Boot durch einen Container beschädigt wird? Oder ein Blauer Marlin sein Schwert durch die Bootswand rammt, wie bei den Siegern der Challenge 2013/14 geschehen? Dann helfen Folie und Harz, um zumindest kleinere Löcher zu flicken. Als letzter Rettungsanker gewissermaßen kann das Rettungsfloß aktiviert werden, das mit an Bord ist.

Was sagt Stengeles Familie zu einem solchen Vorhaben? „Mein verstorbener Vater wird von oben runterschauen und denken: Du bist verrückt.“ Die Mutter (91) schüttle den Kopf. Die Geschwister wollten dem kleinen Bruder die Atlantik-Überquerung zunächst ausreden – bis sie begriffen hätten, dass er sich nicht davon abbringen lassen würde. Eine Schwester zähle inzwischen zu seinen größten Unterstützern.
In Gedanken spielt er alle Gefahren durch
Der 52-Jährige arbeitet lieber an den Problemen, als sich zu sorgen. Er holt sich Tipps von anderen Ruderern, die die Atlantic Challenge machen oder schon gemacht haben, auch mit den Hamburger Frauen aus dem Film steht er in Kontakt. In Gedanken spielt er alle realistischen Gefahrenszenarien durch, um den richtigen Ablauf im Notfall im Schlaf draufzuhaben.
Stengele ist es wichtig, dass seine Atlantik-Überquerung nicht nur eine Spaßveranstaltung wird. Sein Boot will er nach überstandener Tour wieder verkaufen und den Erlös – nach Abzug seiner Kosten – der Organisation Mukoviszidose e. V. spenden. Außerdem wird er eine Kamera an Bord haben, mit der für das Institut für Chemie und Biologie des Meeres Bilder von der Wasseroberfläche gesammelt werden.
Ein guter Tipp von Arved Fuchs
Für sein Vorhaben schreckt der 52-Jährige auch nicht vor verrückten Ideen zurück. Mit dem Berufssegler Boris Herrmann möchte er Verbindung aufnehmen. Den Polarforscher Arved Fuchs hat er einfach angerufen. Dessen Rat: So früh wie möglich mit dem Boot, mit dem er unterwegs sein wird, trainieren, sodass es wie eine zweite Haut wird. Weil: Draußen benötigt man immer freie Kapazitäten für Unvorhergesehenes.
Im Stillen stellt sich Stengele trotzdem hin und wieder die Frage: „Ist es richtig, was ich da mache?“ Andererseits sagt er sich: „Wenn man ehrlich ist, kann man auch jederzeit einen Verkehrsunfall haben. Und ich sitze trotzdem am Steuer.“