Die frühere Mülldeponie Friedrichshafen-Weiherberg ist heute ein „Entsorgungszentrum“. Das klingt zeitgemäßer, zumal die Anlage in einem Grüngürtel liegt. Am Wanderparkplatz startet ein Naturlehrpfad, dahinter verkündet eine Blechtafel die Öffnungszeiten. Lkw bringen Abfälle, Pkw-Fahrer laden Grünschnitt aus. Gelbe Wanderweg-Pfeile weisen in drei Richtungen.

Bernd Caesar (77) und Gunar Seitz (65) stellen den Wagen ab und schnallen sich einen Rucksack um – zu einer Wanderung zurück in die Geschichte, die hier mitten im Zweiten Weltkrieg begann, der heute vor 80 Jahren endete.

Niemand kann mehr von der Geschichte dieses Orts erzählen, Zeitzeugen sind alle tot. In diesem Fall waren es etwa Techniker des „Vorwerks Raderach“, wie im Nazi-Jargon das riesige Gelände hieß. Hitlers Raketenbauer testeten hier das Triebwerk des „Aggregat 4“, bekannt als „Wunderwaffe V2“.

Die Rakete A4/V2 auf einem Abschussgestell. Es handelte sich um die erste einsatzfähige Fernrakete in einem Krieg. Ab September 1944 ...
Die Rakete A4/V2 auf einem Abschussgestell. Es handelte sich um die erste einsatzfähige Fernrakete in einem Krieg. Ab September 1944 wurde sie als „Vergeltungswaffe“ auf London abgefeuert. Bis Ende März 1945 wurden mehr als 3000 der Raketen auf Ziele in England, Belgien und Frankreich abgeschossen. Dabei kamen 8000 bis 12.000 Menschen ums Leben, vor allem in Antwerpen und London. | Bild: Archiv dpa

Zeitzeugen waren auch jene 417 Männer aus ganz Europa, die hier drei turmhohe Prüfstände errichteten, ein Sauerstoff-Werk bauten, das den Treibstoff lieferte, ein Transformatorenhaus hochzogen, das den Strom einspeiste und die ihre Wohnbaracken zimmerten, die in einer Niederung lagen, über der heute Sumpfgras wächst. Auch von ihnen lebt keiner mehr.

In diesen Baracken an der Raderacher Straße wohnten die mehr als 400 Männer, die das „V2-Werk“ seit 1942 errichteten. Im Oktober 1943 ...
In diesen Baracken an der Raderacher Straße wohnten die mehr als 400 Männer, die das „V2-Werk“ seit 1942 errichteten. Im Oktober 1943 wurden sie zu KZ-Häftlingen gemacht. Von den Baracken ist heute nichts mehr zu sehen. | Bild: Bundesarchiv Freiburg

Erinnerungsarbeiter wie Bernd Caesar kämpfen heute gegen das Vergessen. Die Namen der Arbeiter von Raderach kennt er alle. Sie stammen aus den Arolsen Archives, die inzwischen öffentlich zugängliche Sammlung von Daten der NS-Opfer und Verfolgten.

„Diesen Männern ging es zunächst ganz gut“, sagt Caesar, der sich im Arbeitskreis Heimatgeschichte Kluftern (AHK) engagiert und bei Dornier in Friedrichshafen Ingenieur gewesen ist. „Sie bekamen Lohn, hatten eine Kranken- und Rentenversicherung.“ Arbeitsämter in ihrer Heimat hatten sie zu lukrativer Arbeit nach Deutschland geholt.

Auf dem Areal wurden nicht nur Gebäude, sondern auch umfangreiche Gleisanlagen errichtet, um Raketen, Triebwerke und Treibstoffe ...
Auf dem Areal wurden nicht nur Gebäude, sondern auch umfangreiche Gleisanlagen errichtet, um Raketen, Triebwerke und Treibstoffe transportieren zu können. | Bild: Bundesarchiv Freiburg

Vom Fahrweg geht es in den Laubwald. Ein Trampelpfad führt durchs Totholz, niedriges Geäst wird zur Seite gedrückt. Im Ausfallschritt setzt Caesar über eine bemooste Betonrinne. „Ein Kabelkanal.“ Dann steht er vor einer Trümmerwand aus Beton. Ein Opfer des Dynamits, mit dem die französische Armee das Transformatorenhaus im April 1948 gesprengt hat. Es ist nicht das Einzige. Auf Steinwurfweite hebt sich ein Dutzend Brocken aus dem Waldboden.

Caesar zeigt einen Lageplan. Zwischen Raderach und Mülldeponie verteilen sich die Anlagen des Testgeländes, das die Männer zunächst als Fremdarbeiter, dann als KZ-Häftlinge anlegten, nachdem Reichsführer SS Heinrich Himmler sie im Oktober 1943 per Federstrich zu „Schutzhäftlingen“ erklärt hatte. Der Beginn ihrer Tortur.

Die Knochenarbeit für die V2 brachte die Männer aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Griechenland und Russland nach Beginn der britischen Bombenangriffe auf Raderach in das KZ-Dora-Mittelbau im Harz, wo sie Stollen graben und „Wunderwaffen“ bauen sollten. „Viele starben unter den brutalen Bedingungen in wenigen Monaten“, sagt Bernd Caesar.

Arbeit bei Schalungs- und Betonierarbeiten an einer der Testanlagen. Im Hintergrund ist das hufeisenförmige Mess- und Bedienhaus zu ...
Arbeit bei Schalungs- und Betonierarbeiten an einer der Testanlagen. Im Hintergrund ist das hufeisenförmige Mess- und Bedienhaus zu erkennen. Auch das wurde von der französischen Armee beseitigt. | Bild: Bundesarchiv Freiburg

Wenn im Wald bis zum Tag des offenen Denkmals am 14. September der Erinnerungspfad „Rundweg gegen das Vergessen“ mit Info-Tafeln angelegt wird, dann nicht, um über die Finessen der Nazi-Raketentechnik zu informieren. Gunar Seitz, freier Künstler, Träger des Bodensee-Kulturpreis 2022 und im AHK aktiv, wird die 16 Tafeln gestalten. „Die werden wir an einem fünf Kilometer langen Weg aufstellen, der zu markanten Erinnerungspunkten führt“, sagt Seitz. Die Wanderer werden die Ruinen des Nazi-Größenwahns sehen. Wo keiner mehr erzählen kann, berichten die Relikte.

Einer von drei Prüfständen für das Triebwerk der V2-Rakete in Raderach. Zur Kühlung wurde Wasser in die Wanne am Boden gepumpt. Die ...
Einer von drei Prüfständen für das Triebwerk der V2-Rakete in Raderach. Zur Kühlung wurde Wasser in die Wanne am Boden gepumpt. Die Verdampfungswolke war so hoch, dass man sie noch im Schweizer St. Gallen sehen konnte. | Bild: Bundesarchiv Freiburg

Wenn Zeitzeugen fehlen, setzt die Geschichtsarbeit ein, beginnt die Suche nach Dokumenten, Fotos und Resten im Boden. Südlich der Deponie könnte eine kleine Gedenkstätte entstehen, „mit einem Würfel, der die Namen aller damals eingesetzten Arbeiter verzeichnet“, sagt Gunar Seitz.

Namen auf langen Liste wie Lucien Bagnier, Andrius von Eck, Johan Fryns oder Jean Melard. Ein Ausgangsort für Schülerprojekte und ein Denkanstoß: Für eine noch immer fehlende wissenschaftliche Aufarbeitung des Rüstungs-Hotspots Friedrichshafen in der NS-Zeit.

Arbeiter – seit Oktober 1943 KZ-Häftlinge – beim Bau von Anlagen und Gleisen. Die englische Luftwaffe wusste von der streng geheimen ...
Arbeiter – seit Oktober 1943 KZ-Häftlinge – beim Bau von Anlagen und Gleisen. Die englische Luftwaffe wusste von der streng geheimen Fabrikation und Testanlage im Wald bei Raderach und begann im Herbst 1944 mit der Bombardierung. | Bild: Bundesarchiv Freiburg