Ihre linke Gesichtshälfte war eine einzige Fleischwunde, ein Auge und Ohr der jungen, hübschen Frau sind fast bis zur Unkenntlichkeit weggeätzt. Aus Eifersucht und Rache wegen Anzeigen gegen ihn hatte Daniel F. seiner Ex-Freundin Vanessa Münstermann vor fünf Jahren in Hannover aufgelauert und ihr den industriellen Abflussreiniger „Rohrgranate“ absichtlich ins Gesicht geschüttet. Der Fall sorgte damals bundesweit für Schlagzeilen.

Die im Reiniger enthaltene hochdosierte Schwefelsäure (96 Prozent) verletzte die damals 27-Jährige lebensgefährlich und entstellte ihr Gesicht für immer – trotz mehr als 30 nachfolgender Operationen. „Ich habe damals laut aufgeschrien, dass das jedem passieren kann. Man sieht das an Robin“, sagt Münstermann im Gespräch mit dem SÜDKURIER.
Pfefferspray, Metallstange und „Rohrgranate“
Robin Schellinger ist ein junger Konstanzer, der am 16. April 2021 mitten in seiner Heimatstadt, aber zunächst unbemerkt von der Öffentlichkeit ebenfalls Opfer eines Säureangriffs wurde, wie der SÜDKURIER ans Licht brachte. Während eines zunächst harmlosen Streits zweier Gruppen im Stadtviertel Allmannsdorf, den der 21-Jährige laut eigenen Angaben schlichten wollte, sollen ihn drei junge Konstanzer im Alter von 16 bis 19 Jahren mit Pfefferspray, einer Metallstange und einem vorerst unbekannten Säuregemisch attackiert haben.

Das Freiburger Uniklinikum, wo Schellinger eine Woche nach der Attacke abgestorbenes Hautgewebe unter Vollnarkose entfernt werden musste, dokumentierte wenige Tage später eine „Verätzung durch Salzsäure“. Dies konnte nun durch eine vom Landeskriminalamt in Auftrag gegebene chemische Analyse widerlegt werden. Demnach verwendete der mutmaßliche 19-jährige Angreifer laut dessen eigenen Aussagen gegenüber der Polizei einen industriellen Abflussreiniger namens „Rohrgranate“ mit 96 Prozent Schwefelsäure – also exakt jenes Produkt, das Vanessa Münstermann die Hälfte ihres Gesichts gekostet hatte. Die chemische Analyse konnte die hohe Dosierung an Schwefelsäure anhand von zwei Beweismittel eindeutig nachweisen.
Ein Abflussreiniger als „Waffe“
Hatte der 21-jährige Robin Schellinger am Ende sogar noch Glück im Unglück, dass nur ein im Vergleich mit Münstermann eher kleiner Teil seines Gesichts sowie ein Ohr von der Schwefelsäure verätzt wurde? „Ja“, sagt der Konstanzer Universitätsprofessor Daniel Dietrich, „in dem Fall hat er, trotz der massiven Verletzungen, Glück gehabt in dieser Situation. Man kann sich das vorstellen wie eine Verbrennung. Je nachdem wie lange die Schwefelsäure einwirken konnte und wie viel draufgekommen ist, kann die Hautoberfläche bis tief ins unterste Gewebe zerstört werden und ist selbst mit Hauttransplantationen nicht so einfach zu ersetzen“.

Dietrich weiß, wovon er spricht. Der Schweizer aus der Nähe von Kreuzlingen ist Studiendekan an der Fakultät für Biologie der Universität Konstanz sowie Professor für Human- und Umwelttoxikologie. „Das heißt, ich befasse mich mit allen von Menschen hergestellten Giftstoffen und ihren Auswirkungen auf Menschen und die Umwelt“, sagt Dietrich. Für ihn steht fest, dass der mutmaßliche Angreifer gewusst haben muss, welche Auswirkungen diese Substanz haben kann. „Wenn jemand einen Rohreiniger mit sich führt als Waffe, dann erscheint das geplant und eine ganz klare Absicht dahinter.“
„Dreimal fast hops gegangen“
Vanessa Münstermann musste nach dem Säureangriff auf der Intensivstation um ihr Leben kämpfen. „Ich wäre im Krankenhaus dreimal fast hops gegangen“, sagt die heute 32-Jährige dem SÜDKURIER. Robin Schellinger schwebte nicht in unmittelbarer Lebensgefahr, wobei ihn vielleicht auch seine vierlagige Kleidung vor schlimmeren Verletzungen bewahrt haben könnte. „Meine Klamotten waren zerfressen bis auf die Haut, selbst die Jeans“, sagt Schellinger. Aber hätte die Säureattacke auf ihn mitten in Konstanz auch tödlich enden können?

„Wenn der Betroffene den Mund offen gehabt hätte und die Säure in den oberen Rachen oder die Lunge gekommen wäre, dann hätte das sehr wohl zum Tod führen können – da hätte man nur noch sehr wenig tun können“, sagt Professor Dietrich, der vereinzelt für Polizei und Gerichte als Sachverständiger gearbeitet hat. Er weiß auch, was man tun soll, wenn man selbst Opfer eines Säureanschlags wird: „So schnell wie möglich mit Wasser abwaschen – waschen, waschen, waschen“, sagt der Experte.
Zwölf Jahre und 250.000 Euro
Am 27. Oktober wird sich der mutmaßliche 19-jährige Säureangreifer von Konstanz vor dem dortigen Amtsgericht wegen schwerer Körperverletzung verantworten müssen. „Dass es Robin mit dem gleichen Mittel wie mich getroffen hat, tut mir leid. Nachahmer sollten abgeschreckt werden vom Strafmaß, da muss die ganze Härte des Gesetzes ran“, sagt Münstermann.
Ihr Ex-Partner und Peiniger Daniel F. war zunächst wegen versuchten Totschlags angeklagt. Da eine Tötungsabsicht nicht nachgewiesen konnte, verurteilte ihn ein Gericht wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwölf Jahren Haft. Außerdem musste er seiner Ex-Freundin 250.000 Euro Schmerzensgeld wegen der erlittenen Entstellungen und chronischen Schmerzen zahlen. „Emotional betrachtet, wäre ein gerechtes Urteil gewesen, wenn er nie wieder aus dem Gefängnis kommen würde. Rational betrachtet, waren die zwölf Jahre ein Urteil, das absolut in Ordnung ist“, sagt Vanessa Münstermann.
„Wer hat denn Säure in der Tasche?“
Für sie ist Robin Schellinger ein „tapferer, junger Mann“, der versuche, Gerechtigkeit zu bekommen. „Was uns Opfern angetan wird, und das ist nicht nur das Äußere, ist enorm. Wer hat denn Säure in der Tasche? Das war auch kein Affekt. Meinen hohen Respekt vor Robin – dass er da noch rational denken kann, das ist nicht leicht“, sagt die 32-Jährige.

Sie wünscht Schellinger eine faire Gerichtsverhandlung, dass er als Opfer eingebunden wird und professionelle Hilfe erhält. Denn nach so einem Angriff fühle man sich sehr alleine. „Man will zu seinesgleichen, fragt sich, wer wird mich so noch lieben? Ich hatte keinen, den ich kontaktieren konnte, ich musste mit dem Alleinsein erstmal selber klarkommen. Mit jemandem zu reden, mit dem das auch passiert ist, hilft sehr“, sagt Münstermann.
Frauen melden sich, die sich hässlich fühlen
Deshalb will sie Robin Schellinger „immer und überall“ unterstützen und ist laut eigenen Angaben zahlreichen weiteren Opfern von Säureanschlägen, Missbrauch, Verbrennungen, aber auch Verkehrsunfällen, bei denen die Betroffenen entstellt wurden, mit Rat und Tat zur Seite gestanden. „Oft melden sich auch Frauen bei mir, die sich nicht schön fühlen und mich fragen, ob man auch hässlich weiterleben kann. Ich finde man muss da eine Grenze ziehen“, sagt die Hannoveranerin.

Sie selbst sei jedenfalls glücklich, hat eine Familie gegründet und eine gesunde Tochter zur Welt gebracht. „Natürlich sind da noch Tage, an denen ich Angst habe, dass mein Ex-Freund frei kommt. Aber ich habe aktiv an mir gearbeitet und glaube, dass ich es geschafft habe, mein Denken so umzustrukturieren, dass ich jetzt glücklich bin.“
Anmerkung der Redaktion:
Der SÜDKURIER bat die Familie des mutmaßlichen Säureangreifers (19) mehrfach, ihre Sicht des Vorfalls einzubringen, was abgelehnt wurde. Der kontaktierte Anwalt der beiden mutmaßlichen Beteiligten (16 und 19 Jahre alt) berief sich auf seine Schweigepflicht. Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.