
Am Osterwochenende kommen sie wieder. 120.000 Besucher waren es im vergangenen Jahr, die sich an den drei Tagen der offenen Baustelle durch das Stuttgart-21-Areal in der Innenstadt schoben. In diesem Jahr dürfen es wegen des Baufortschritts maximal 25.000 pro Tag sein, um zu schauen, wie allmählich Gestalt annimmt, wofür die Milliarden ausgegeben werden.
Denn von den Baufortschritten am neuen Stuttgarter Tiefbahnhof, dem Herz des Gesamtprojekts „Stuttgart 21“, ist an anderen Tagen im Alltag der Stadt nur wenig zu bemerken beim Blick durch die Guckfenster und Bauzäune rund um das Areal.
Wenige Tage vor dem Besucheransturm führt Jörg Hamann, Kommunikationschef des „Bahnprojekts Stuttgart–Ulm“, wie Stuttgart 21 offiziell bei der Deutschen Bahn (DB) heißt, bei einem Rundgang über die Baustelle. Um die 500 Menschen sind dort zurzeit beschäftigt.

Auf dem ebenerdigen Dach des künftigen Tiefbahnhofs beherrschen noch immer Baumaschinen, Kräne und weiße Zeltbauten das Bild. Unter den Zeltbauten befinden sich in verschiedenen Stadien der Fertigstellung die sogenannten Lichtaugen, jene charakteristisch geschwungenen Stahl-Glas-Konstruktionen in Gitteroptik, die künftig das oberirdische Bild des Bahnhofs prägen und durch die das Tageslicht nach unten in die Bahnsteighalle fällt.
Manche der 27 Lichtaugen, Durchmesser um die 20 Meter, sind fertig, manche noch mit großen schwarzen Matten abgedeckt. Über anderen stehen die weißen Schutzzelte. Die Arbeiter des Fassadenspezialisten Seele, der Firma, die über den Lichtaugen-Bau Regie führt, bringen in diesen Tagen Abdichtungen an, montieren Verkleidungen und Geländer.
„Das ist sensationell, was die hier leisten“, sagt Hamann mehrfach. Wie für so vieles an diesem Mega-Projekt gab es auch für die Lichtaugen, weder für Herstellung noch Einbau, eine Blaupause. So etwas wurde noch nirgends auf der Welt gebaut.
Das Herz des Tiefbahnhofs liegt unter dem Lichtaugendach. Dort unten, wo die Kelchstützen, die Bahnhofsdach und Lichtaugen tragen, aus dem Boden wachsen, ist der Rohbau komplett fertig. Am 1. April wurden im Gleisbett die letzten 120 Meter Langschienen verschweißt.

Die neue Schienenstrecke durch den Bahnhof, die Stuttgart in Tunneln vom Nordosten nach Südosten unterirdisch quert, ist damit komplett geschlossen und wäre befahrbar.
„Emotionaler Moment“
„Stuttgart 21 hat zum Endspurt angesetzt“, sagte Olaf Drescher, Vorsitzender der Geschäftsführung der Projektgesellschaft beim feierlichen Vorort-Termin, „für mich nach 45 Jahren als Eisenbahner ist das ein wirklich emotionaler Moment und ein Meilenstein in der Historie dieses Jahrhundertprojekts.“ Vor allem aber, sagte Drescher, „ist dieser Bahnhof einer der schönsten der Welt“.
Ein Eindruck, dem sich wenig entgegensetzen lässt. Jedenfalls, solange nur von der Architektur die Rede ist. Und nicht von der vielfältigen, nicht enden wollenden Kritik am gesamten Projekt, der ungeklärten Frage, wer am Ende die Milliardenkostensteigerungen zahlt – derzeit stehen rund 11 Milliarden statt der ursprünglichen 4,1 Milliarden Euro im Raum – , den anhängigen Prozessen und Klagen und den Zweifeln der immer noch aktiven S21-Gegner an der Leistungs- und Funktionsfähigkeit und der Sicherheit des neuen Tiefbahnhofs.
Eine lichtdurchflutete Kathedrale
Bestenfalls vielleicht ließe sich einwenden, dass es sich hier gar nicht um einen Bahnhof handelt. Sondern eher um ein einzigartiges Architekturprojekt, eine lichtdurchflutete Kathedrale mit einer Decke aus hellen, geschwungenen Betonbögen, durch die Lichtkegel ihre Schattenspiele auf den Boden werfen.
Und auf dem vergleichsweise winzig anmutende Arbeiter mit Helmen auf den Köpfen und orangenen Schutzwesten versehentlich Schienen und Gleisbette verlegt zu haben scheinen. Die Bahnsteigkanten sind bereits eingefasst von der ersten Reihe der hellen marmorierten Natursteinblöcke, die später den gesamten Bodenbelag der Bahnhofshalle bilden und in den kommenden Wochen verlegt werden.
Eine Architektur, in der vieles weit denkbarer erscheint als Durchsagen aus Bahnhofslautsprechern und ein- und ausfahrende Züge. Große Veranstaltungen, Konzerte, Opern- und Theateraufführungen etwa. Braucht Stuttgart derzeit nicht auch eine Interims-Oper?
Auch den Machern der Projektgesellschaft bei der Bahn fiel das Potenzial auf, sie holten 2024 in die geschwungene mattweiße Betonkulisse des Rohbaus die Solisten des weltberühmten Stuttgarter Balletts für das Film- und Foto-Projekt „Station 21“.
Ballettintendant Tamas Detrich schwärmte anschließend von „Architektur pur“ in Verbindung mit der Körperkunst seiner Compagnie und der Einmaligkeit dieser Performance, aus der auch ein Fotokunstband entstanden ist. Eine Aufnahme aus der Foto-Serie von „Station 21“ schmückt seitdem den alten Bahnhofsturm von Stuttgart als überdimensionales Fotoplakat.
Doch in diesen Tagen überlagert der Einbau der schnöde-zweckgebundenen Bahnhofinfrastruktur auch optisch den puren architektonischen Charakter. Techniker arbeiten an den Medienkanälen, die Hallendecke wird allmählich durchzogen von Deckenstromschienen, an denen die Oberleitungen montiert werden.
An den frei an Stahlstangen hängenden Verteilerstegen quer über die Gleise, von denen die Treppen zu den Bahnsteigen hinabgehen und die der Zubringer der Fahrgäste zu den Gleisen und noch oben sind, werden Rolltreppen und Aufzüge montiert.
Welche Dimensionen hier alles hat, lässt sich etwa an den Schrauben ermessen, mit denen die Stahlstangen, an denen die Verteilerstege hängen, in der Decke verankert sind: eine Schraube wiegt 200 Kilogramm.
Von diesen Stegen aus öffnet sich der Blick in die ganze Weite und die Tunnelröhren des Tiefbahnhofs: In ein Stück Architektur, das seinesgleichen sucht. Zumindest damit wird sich Stuttgart künftig schmücken können. Ob die Stadt dann am Ende auch über einen funktionierenden und zukunftsfähigen Bahnhof verfügt, muss sich aber erst noch weisen. Zumindest der Termin für eine Teileröffnung steht nach wie vor: Dezember 2026.