Auf dem Tisch liegt eine Collage aus Erinnerungen: Schwarzweißfotos der Eltern im Erzgebirge, Familienbilder aus Kindheit und Jugend, Motivpostkarten mit Sätzen in Kinderschrift, Tagebücher mit eingeklebten getrockneten Blüten, gestempelte Dokumente, gehütete Unikate eines langen Lebens.
Unübersehbar ist ein Wachsmalstift-Bild, das eine lachende Frau mit blauem Haarschopf zeigt. Mit schützenden Armen umfasst sie je zwei Kinder. Auch sie lachen.

Wenn Eva-Maria Stern (76) erzählt, wie sie vor mehr als 50 Jahren so farbenfroh porträtiert wurde, spricht Freude und Wärme aus ihr, als wäre es gestern gewesen. „Ich habe die Kinder ja so gemocht.“ Dieser Satz könnte ihr Lebensmotto sein. Schaut man genau hin, findet man diese Zuneigung in Details wieder. „Christine, 5 Jahre“ – mit sanfter Handschrift ist der Name der Künstlerin des Blauhaar-Porträts vermerkt. Niemand soll vergessen werden.
Betreuerinnen waren meist überfordert
Hinter jedem Namen steckt eine Persönlichkeit, egal, ob sie vier oder 10 Jahre alt war. Das ist bemerkenswert, denn in den hunderten von Kinderkurheimen waren die Betreuerinnen mit den Babyboomer-Kohorten meist überfordert. Bei Eva-Maria Stern ist davon nichts zu bemerken.
„Liebevolle Selbstlosigkeit, Einsatzbereitschaft und kluges Anpassungsvermögen gewann ihr die Herzen der Buben“, heißt es in einem Zeugnis des Caritasverbands Karlsruhe vom November 1963. Beim Praktikum in der „Schulkindererholung“ ihrer Heimatstadt zeigte die 16-Jährige „Einfallsreichtum und mütterliche Zuwendung“.
„Musste viele Heimwehtränen trocknen“
Im Alltag der Kinderkuren war Zuwendung nicht vorgesehen. In den 1960er-Jahren wurden in der Bundesrepublik jährlich mehr als 100.000 Kinder in eine sechswöchige Kur verschickt, von der Nordsee bis ins Allgäu.
Die Heimleitungen reagierten auf diesen Zulauf mit einem harten Regelwerk, das auf Bedürfnisse des Einzelnen keine Rücksicht nahm. „Ich habe viele Heimwehtränen trocknen müssen“, erzählt Eva-Maria Stern (damals Körner) heute.

An Tränen und Ängste erinnern sich immer mehr Betroffene, die als Kinder eine Kur erlebt haben. Die Aufarbeitung ist in Gang gekommen. Historiker erarbeiten Studien, führen Gespräche mit Zeitzeugen. Frühere Heimangestellte waren bisher nicht dabei. Eva-Maria Stern vertraut sich dem SÜDKURIER an. Sie ist eine Ausnahme.
Zuwendung statt Härte und Disziplin
Die frühere „Kindergärtnerin und Hortnerin“, wie sie sich nach Ende der Ausbildung am damaligen Seminar St. Agneshaus in Karlsruhe seit Ende 1965 nennen durfte, kam mit dem Heim-Regime der Strenge und Härte zwar noch in Kontakt. Sie ging für ihre eigene Arbeit aber einen anderen Weg, wie er sich damals allgemein abzeichnete. Die Zeiten hatten sich geändert, auch wenn sich die einstige Erzieherin an die katholischen Nonnen im Agneshaus augenzwinkernd als „Gottes Beißzangen“ erinnert.
Kinderkurheim-Hochburg im Südwesten
Bei einem vierwöchigen Praktikum im damaligen DRK-Kindersolbad „Haus Hohenbaden“ in Bad Dürrheim 1965 hatte Stern die Schattenseiten der für die beteiligten Akteure wie Ärzte, Krankenkassen und private Träger lukrativen Verschickungsindustrie gesehen.
„Unmöglich“, sagt sie leise, nachdem sie beschrieben hat, wie 200 Kinder in den riesigen Speisesaal einrückten und unter Zeitdruck essen müssten, weil weitere 200 Kinder schon vor den Türen warteten. „Unmöglich“, dass die Eltern die Kinder nie besuchen durften; „unmöglich“, dass die Heimleitung Paketsendungen mit Süßigkeiten öffnete und das meiste daraus abzweigte.


Die angehende Erzieherin hatte in Bad Dürrheim für etwa 30 Jungen zu sorgen, von der Leiterin fühlte sie sich dabei alleingelassen. Täglich musste sie die Kinder im Keller zum Bad in den Sole-Wannen abliefern. Dort übernahmen die Rotkreuz- und Bade-Schwestern, die meist mit wenig Feingefühl ihr Regiment ausübten.
Waren die Kinder überhaupt erkrankt?
„Ich hatte nicht den Eindruck, dass diese Kinder erkrankt waren“, erinnert sie sich. Tatsächlich wurden viele mit einer windigen ärztlichen Indikation in Kur verschickt. Die Rentnerin kommt noch heute Mitleid an, wenn sie den eng durchgetakteten Tagesplan der Kinder beschreibt, den Mittagsschlaf auf Kommando, das schmale Zeitfenster fürs Spielen, den Galopp zum Abendessen, den frühen Zapfenstreich.
Von körperlicher Gewalt sah die Praktikantin zwar nichts. „Allerdings wurde erzählt, dass in früheren Jahren Kinder, die Nachts in ihr Laken genässt hatten, morgens mit den nassen Tüchern um den Hals über den Hof gehen mussten.“ Strafe und Demütigung als Relikte einer noch nicht überwundenen Zeit. Die Kindergruppe teilte sich zwei Toiletten. Selbst der Gang dorthin musste auf Effizienz getrimmt werden.
„Absolut nicht kindgerecht“
Eva-Maria Stern spricht heute von einem „absolut nicht kindgerechten System“, dem sie als Mitarbeiterin selbst unterworfen war. Als Kind hatte sie es selbst erlebt: Als Vierjährige war sie für ein paar Wochen in einem Kinderheim in Baden-Baden, die Eltern hatten sich noch um drei Schwestern und zwei Halbbrüder zu kümmern. Später folgte eine Kinderkur in Rottach-Egern am Tegernsee, dann, mit 14, ein Aufenthalt im „Haus Jungborn“ in Todtmoos. „Dort wurde mir Älteren dann ein Bub zur Betreuung anvertraut“, erzählt sie.
Die eigene damals übliche strenge Erziehung half ihr, mit dem oft mürrischen Umgangston der Leitungskräfte im Heim klarzukommen. Sie fand Gefallen an dem Gedanken, die Dinge als Erzieherin künftig anders und besser zu machen. Sie wollte keinen Job erfüllen, sondern Kindern durch Zuwendung schöne Wochen schenken.
Zum „Bergmännle“ ins Allgäu
Sie schlägt ein Tagebuch auf und zeigt eine Bleistiftzeichung. Ein Zug mit vielen Waggons fährt vor einer Bergkette mit Fichtenwald. Ziel war das Kinderkurheim „Bergmännle“ in Vorderhindelang bei Sonthofen im Allgäu. Es war im April 1966 der erste Arbeitsplatz nach Ende der Ausbildung.

Das Ehepaar, das die Einrichtung betrieb, knauserte an allen Ecken, beim Personal sowieso – aber auch bei der Verpflegung. So sollte mehr Gewinn aus der Tagespauschale von 15,50 Mark pro Kind hängenbleiben – keine seltene Praxis in privaten Kinderkurheimen.

„Leider waren nur zwei Wasserhähne da, für meine große Kinderschar“, reimte die junge Frau mit guter Miene zum bösen Spiel. „Diese hungrigen Blicke, oh welche Not, doch es gibt für jeden nur ein Stück Brot.“ Nach drei Monaten beendete die angereiste Mutter das Arbeitsverhältnis.
„Tante Evi“ wechselte ins „Haus Gutermann“ in Oberstdorf. Einfach war es auch dort nicht. „21 Kinder müssen am Waschbecken gewaschen werden, denn es gibt keine Duschen“, erzählt das Tagebuch. Auch in diesem familiengeführten Haus wird auf Kosten von Kindern und Angestellten gespart.
Zimmer war eher eine Vorratskammer
„Mein Zimmer war so groß wie eine Vorratskammer, mit nur einem Bett und einem Schrank drin“, erzählt die frühere Erzieherin. Frei gab es nur alle zehn Tage, Dienst war immer – vom Aufstehen bis spät Abends. Nach einem Jahr Kinderkur wechselt Stern zu einer Karlsruher Kita und kehrt der Schattenwelt der Kinderkur den Rücken.
Kinderklinik, Gehörlosenschule, Sprachstudium in England, Familienbetreuerin in Südfrankreich, am Ende ein prominentes Internat in St. Gallen – Eva-Maria Stern ist beruflich viel herumgekommen. Täglich klingelt noch heute das Telefon, weil jemand ihre Hilfe braucht. Eigene Kinder hat sie keine.
Kommt die Aufarbeitung der Kinderkur-Misere zu spät?
Aber irgendwie ist dieser Satz falsch. Was Kurkinder erleben mussten, beschäftigt die Rentnerin noch immer. „Die Aufarbeitung hätte schon vor 20 oder 30 Jahren einsetzen müssen.“ Sie würde es freuen, wenn Kinder, für die sie einst „Tante Evi“ war, sie kontaktieren würden. Zum Kindersolbad in Bad Dürrheim möchte sie „gerne mal wieder hin“. Bürgermeister Jonathan Berggötz würde sich über einen Besuch der einstigen Praktikantin freuen. Telefoniert hat er bereits mit ihr.