Herr Schneider, wie finden Sie die Schweizer Corona-Lockerungen?

Einen Teil finde ich durchaus gut. Die Kommunikation durch die Schweizer Politik ist besser, aufmunternder, weniger von oben herab. Gleichzeitig will man sich Wählerstimmen sichern. Da geht man einen Schritt zu weit nach meiner Ansicht.

Wie kommt es, dass sich die Schweizer Politik mehr dem Wählerwillen beugt?

Es gibt einen größeren Einfluss rechtspopulistischer Strömungen. Deshalb gibt man der Stimmung in der Bevölkerung eher nach. Das hat mit der direkten Demokratie zu tun, aber auch mit der Zusammensetzung der Regierungen. Überall in den Kantonen gibt es sehr große Koalitionen. Da kann man – anders als in Deutschland – faktisch gleichzeitig regieren und Opposition machen. So wie der Schweizer Finanzminister Ueli Maurer, der mit den Trychlern (Demonstranten mit Kuhglocken, Anm. d. Red.) gegen Corona-Maßnahmen demonstriert hat. In Deutschland wäre er schon längst zum Rücktritt aufgefordert worden. Es gibt eine gewisse Anbiederungssucht im Bundesrat an die Maßnahmengegner, die auch mit dem Druck zu tun hat, den die SVP, die Schweizerische Volkspartei, aufbaut. Meine Frau ist Dänin, in Dänemark haben sie eine ziemlich ähnliche Konstellation. Da gibt es zwar eine sozialdemokratisch geführte Regierung, aber die macht zum Teil sehr populistische Politik, zum Beispiel bei der Migration, aber auch bei Corona – um den Populisten das Wasser abzugraben.

So genannte Trychler nehmen an einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung teil. Trycheln bedeutet mit Kuhglocken ...
So genannte Trychler nehmen an einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung teil. Trycheln bedeutet mit Kuhglocken schellen. Das Läuten der Trychler ist zur Begleitmusik der Schweizer Corona-Skeptiker geworden. | Bild: Ennio Leanza, dpa

Die Maßnahmen in Ihrem Heimatland waren durch die ganze Pandemie hindurch lockerer als in Deutschland. Sind die Schweizer freiheitsliebender als die Deutschen?

Wir Schweizer sind schon so konditioniert, dass wir uns nichts sagen lassen. In Deutschland dagegen ist der Einfluss der Behörden viel stärker und er wird auch mehr hingenommen. Das müssen Sie in der Schweiz alles rechtfertigen. Durch die direkte Demokratie und die ständigen Abstimmungen gibt es den Druck der Straße, dagegen kann sich die Regierung nicht so leicht stellen. Die direkte Demokratie trägt hier schon sozialdarwinistische Züge. Corona ist ja letztlich ein Minderheiten-Phänomen, weil stark gefährdet vor allem Alte und Vorerkrankte sind. In einer direkten Demokratie aber regiert der Mehrheitswille. Und da werden die Auswirkungen der Maßnahmen auf andere Gruppen stärker berücksichtigt. So wurden die Schulen nicht geschlossen, weil die sozialen Auswirkungen auf die Familien stärker berücksichtigt wurden.

Wie finden Sie denn die deutsche Corona-Politik?

Die öffentliche Verwaltung in Deutschland ist nicht sehr bürgernah. Da werden Luftfilter ewig nicht angeschafft und die Digitalisierung geht unheimlich langsam voran. Nach zwei Jahren sollte vieles besser funktionieren. Aber es ist zum Teil noch immer schwierig, einen Impftermin zu bekommen. Da bekommt man in anderen Ländern schlicht eine E-Mail zugeschickt, so läuft das bei meinen Geschwistern in der Schweiz. Es herrscht ein obrigkeitsstaatlicher Ton. Ständig diese Verordnungen, in denen alles im Detail geregelt ist, was verboten ist. Da finden Sie Wörter wie „unterabständig“ – gemeint sind die Abstände im Hörsaal – oder die „körpernahen Dienstleistungen“, was das bedeutet, da kann man seine Fantasie walten lassen (lacht). Alles schönstes Bürokratendeutsch. In der Schweiz gibt es auch Verordnungen, aber es wird viel klarer und positiver kommuniziert. In Deutschland wird auf die Bürgerpflicht gepocht, in der Schweiz wird der Staat von den Bürgern in die Pflicht genommen.

Prof. Dr. Gerald Schneider, Internationale Politik.
Prof. Dr. Gerald Schneider, Internationale Politik. | Bild: Universität Konstanz

Sind die Deutschen obrigkeitshörig?

In der Schweiz gibt es ein institutionalisiertes Querulantentum, man misstraut dem Staat. In Deutschland ist das weniger ausgeprägt. Man hält sich an die Maßnahmen und hinterfragt sie nicht, selbst wenn sie keinen Sinn machen. Ich habe neulich eine Radtour mit meiner Frau gemacht. Da waren wir auf der Fähre, auf der kaum ein Mensch war – und trotzdem wurden Masken getragen. Während der Ausgangssperre war ich der einzige Mensch, der abends noch durch Litzelstetten gewandert ist, weil ich nach dem Online-Unterrichten mal rausmusste. Das gilt aber nicht nur in der Pandemie. In Deutschland bleibt man als Fußgänger bei Rot an der Ampel stehen, auch wenn weit und breit kein Auto vorhanden ist. Das passiert in der Schweiz sehr viel seltener.

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Stichwort Kommunikation. Denken Sie dabei auch an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der kürzlich sich noch vehement dagegen gewehrt hat, über eine Exitstrategie nachzudenken?

Ich weiß nicht genau, was sein Kalkül ist. Die nächsten Landtagswahlen stehen erst 2026 an. Die unmittelbaren Einschränkungen werden die Leute bis dahin vergessen haben. Möglicherweise rührt sein strenger Kurs auch daher, dass er sich nicht wiederwählen lassen muss und er deshalb vor allem an seine eigene Generation denkt. Ein gewisser Altersstarrsinn... Aber was sich in seinem Kopf abspielt, weiß ich natürlich nicht.

Mitarbeiter entfernen Hinweise zu Corona-Regeln am Eingang des Kunstmuseums. In der Schweiz sind die meisten Corona-Schutzmaßnahmen ...
Mitarbeiter entfernen Hinweise zu Corona-Regeln am Eingang des Kunstmuseums. In der Schweiz sind die meisten Corona-Schutzmaßnahmen gefallen. Ein Nachweis über eine Impfung oder Genesung wird nirgendwo mehr verlangt. | Bild: Georgios Kefalas, dpa

Was haben Sie davon gehalten, dass ungeimpfte Studenten vom Präsenzunterricht ausgeschlossen wurden in Baden-Württemberg?

Ich bin da vielleicht ein bisschen radikal. Ich finde, dass man Erwachsenen schon die Impfung zumuten kann, wenn das größere Freiheit zur Folge hat. Aber die Studenten waren gar nicht das Problem, eher das Verwaltungspersonal, das sich nicht impfen lassen wollte.

Stichwort Impfpflicht, die ja in Deutschland noch kommen soll – wahrscheinlich. Wäre die in der Schweiz überhaupt denkbar?

In der gegenwärtigen Lage wäre das nicht möglich. In Österreich wird sie ja bereits abgeschwächt. Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland will keiner so richtig Verantwortung übernehmen, wie mir scheint. In der Schweiz ist die Diffusion der Verantwortung schon im politischen System angelegt.