Jedes Mal, wenn Fethullah Gerin liest, dass es in Deutschland wieder einen Anschlag gegeben hat, betet er und hofft inständig, dass es kein Ausländer war. Mannheim, Solingen, Aschaffenburg, Magdeburg, München und zuletzt wieder Mannheim: Seit Mai vergangenen Jahres sind bei Anschlägen 16 Menschen gestorben, Hunderte wurden teils schwer verletzt.
Der Arzt lebt seit sechs Jahren in Deutschland. Auch seine Frau ist Ärztin, sie haben zwei Kinder. Geflohen ist er aus der Türkei, wo Präsident Erdogan seit Jahren politische Gegner verfolgt. „Nach dem Putschversuch 2016 hatte Erdogan per Notstandsdekret Tausende Bedienstete aus ihren Ämtern entfernen lassen. Sie haben ihre Pässe verloren“, erinnert er sich. Alle Oppositionellen seien in diesen Hexenkessel geworfen worden, egal ob sie der Gülen-Bewegung nahestanden oder nicht.
Ihm wurde der Pass abgenommen
Er war von heute auf morgen ohne Job, seiner Familie und ihm nahm man die Pässe ab. Nur knapp entkam er der Polizei, lebte mit falschen Papieren, ließ sich sogar von seiner Frau scheiden, um sie zu schützen. Schließlich gelang ihm die Flucht.
Der 42-Jährige, der als Facharzt für Labormedizin in einem großen Labor in Weingarten arbeitet, beobachtet, dass Migranten, gerade in sozialen Medien, häufig als ungebildet, arbeitsunwillig und sozialhilfebedürftig dargestellt werden. „Das stört uns, unsere Familie und vor allem unsere Kinder sehr, macht uns besorgt und traurig“, schreibt er dem SÜDKURIER.
Kinder sollen in Freiheit aufwachsen
Daraufhin kommt es wenige Tage später zu einem Treffen bei Familie Cam: Özlem Cam, 39, und ihr Mann Yusuf, 44, haben wie die Familie Gerin vor sechs Jahren Asyl in Deutschland beantragt. Ihre Töchter sind 14 und neun Jahre alt.
Sie leben in einem größeren Wohnblock in Weingarten, der Tisch im Wohnzimmer ist schon gedeckt fürs Abendessen. Auch sie sind vor Erdogan geflohen. „Wir wollen, dass unsere Kinder in Freiheit und in einer Demokratie aufwachsen“, sagt die 39-Jährige. Jahrelang haben sie und ihr Mann in der Türkei als Lehrer gearbeitet. Man könne dort nicht sagen, was man denke.
„Ich fühle mich wie ein Vogel im Himmel, sicher und frei“
„Seit ich hier vor zwei Jahren meine berufliche Anerkennung bekommen habe, fühle ich mich wie ein Vogel im Himmel, sicher und frei“, sagt sie und lächelt. Inzwischen unterrichtet sie an einer Grundschule in einer Vorbereitungsklasse für Flüchtlingskinder und vertritt in verschiedenen Fächern auch in den anderen Klassen. Ihr Mann hat eine Umschulung gemacht, heute hat auch er eine feste Stelle als Fachinformatiker in Bad Waldsee.
„Manchmal fühle ich mich fremd, manchmal fühle ich mich wohl“, sagt Özlem Cam, die 39-jährige Lehrerin, die als Muslimin Kopftuch trägt und das aus eigener Überzeugung wegen ihres Glaubens, wie sie betont. Die letzte der fünf Flüchtlingsunterkünfte, in denen sie nach ihrer Ankunft lebten, lag in einem kleinen Ort im Allgäu.
„Können Sie lesen und schreiben?“
Sie spürten die Ablehnung jeden Tag. „Mich haben die Leute gefragt, ob ich lesen und schreiben kann“, erzählt sie. Auf der Straße hat sie niemand gegrüßt, sie mussten immer zuerst grüßen. Die Cams sind sehr froh, dass viele Menschen, die Vorurteile hatten, ihre Meinung geändert haben. „Es gibt viele nette Leute, die uns damals und auch jetzt wirklich sehr motiviert haben, nicht einfach aufzugeben. Deswegen haben wir uns sehr schnell integriert“, sagen sie und ihr Mann.
Viel zu verdanken haben die Cams einer Deutschen, die heute wie eine Verwandte für sie ist und Meta heißt. Als Betreuerin in der Schule hatte sie gemerkt, dass die Tochter des Paares rasch lernte und sogar eine Klasse überspringen konnte. Sie half der Familie bei Behördengängen und bei der Bewerbung um das Nachstudium an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten. Ihr Sohn übte mit den Cams Deutsch.
Ohne Deutschkenntnisse gekommen
Sie alle kamen ohne Deutschkenntnisse und fingen bei null an. „So als wären wir gerade erst geboren“, sagt Fethullah Gerin. Der Weg war steinig. Um eine Arbeitserlaubnis als Arzt zu bekommen, warte man 1,5 Jahre auf einen Termin für die Fachsprachenprüfung, sagt er.
Die Türkei musste ihre Berufserfahrung auf einem bestimmten Formular bestätigen, erinnert sich Özlem Cam – und das, obwohl diese in den vorgelegten Zeugnissen dokumentiert war. Die Mitarbeiter in den Jobcentern seien oft schlecht informiert gewesen, sagt sie. Auch Fethullah Gerin sieht diese mit der Beratung von Uniabsolventen und Fachkräften überfordert.
Sie alle haben die Sprache gut gelernt und verdienen heute ihr eigenes Geld. „Wir sind so dankbar, dass wir hier in Deutschland leben können“, sagt er. Die anderen nicken. Jahrelang wurden sie vom Jobcenter unterstützt. Menschen mit Beruf und gut ausgebildete Fachkräfte und Universitätsabsolventen kämen nicht hierher, um von Sozialleistungen zu leben, sagt er. „Heute bezahlen wir alle Steuern und möchten diesem Land etwas zurückgeben“, ergänzt die 39-jährige Lehrerin.
Nach der Bundestagswahl weinte die Tochter
Doch immer wieder gibt es auch bedrückende Erlebnisse: Kurz vor der Bundestagswahl kam Fethullah Gerins zehnjährige Tochter weinend nach Hause. Ob sie zurück in die Türkei müssten, wenn die AfD an die Regierung komme? Das hatten Mitschüler zu ihr gesagt. „Eine solche Situation beeinflusst ein Kind, es fühlt sich fremd und nicht in der Gesellschaft aufgenommen“, sagt der 42-Jährige, der seine Frau hier zum zweiten Mal geheiratet hat. Er sieht die Gefahr einer Radikalisierung junger Menschen, die sich abgelehnt und ausgestoßen fühlen.
Ausländische Familien bräuchten Partnerfamilien
Alle drei sind sich einig, dass es am besten wäre, wenn jede Familie eine Meta hätte als deutsche Mentorin, die ihr bei den ersten Schritten in Deutschland hilft. Özlem Cam fände es gut, wenn es ähnlich einer Nachbarschaft eine „Kulturschaft“ gäbe, um ausländische Familien durch Partnerfamilien schneller in die Gesellschaft zu integrieren. Es sollten Veranstaltungen organisiert werden, bei denen neu zugewanderte ausgebildete Geflüchtete mit deutschen Fachkräften aus demselben Berufsfeld zusammenkommen, schlägt sie vor.
Wenn die junge Lehrerin hört, dass die AfD am liebsten einen Zaun um Deutschland bauen würde, denkt sie an die Berliner Mauer. Das sei schlimm gewesen. Die Menschen seien durch eine Mauer aus Stein getrennt worden. „Aber jetzt sehe ich, dass wieder eine Mauer gebaut wird aus – Gedanken und Vorurteilen“, sagt sie. „Doch die lässt sich nicht so leicht abbauen. Das finde ich sehr gefährlich.“

Wie lässt sich die Migrationskrise lösen?
Das beherrschende Thema Migration treibt sie alle um. Wie ließe sich die Migrationskrise lösen? Der Arzt Fethullah Gerin plädiert für strenge Kriterien bei der Aufnahme von Flüchtlingen. In Flüchtlingsunterkünften, in denen er anfangs lebte, lernte er viele problematische Menschen kennen: Diebe, Drogendealer, Sexualstraftäter und sogar Mörder.
„Es war bereits bekannt, dass diese Menschen problematisch sind“, sagt er. „Kriminelle sollten nicht aufgenommen werden, und wer hier Straftaten begeht, sollte das Land wieder verlassen müssen“, fordert er.
Integrationskurse seien sehr wertvoll, dauerten aber viel zu lange. „Vom Erhalt eines Aufenthaltstitels bis zur Teilnahme an einem Integrationskurs vergehen oft acht bis zehn Monate“, kritisiert er.
Für Qualifizierte schlägt er intensive Sprachkurse vor, zum Beispiel an Universitäten. Auch die Anerkennung von Berufen müsse schneller gehen. Bis dahin könnten sie als Hilfskräfte in ihren Berufen arbeiten: „Lehrer als Lehrerhelfer, Erzieherinnen als Erzieherhelfer und Ärzte als Arzthelfer.“
Einladung zum Abendessen
Inzwischen sitzen alle am Tisch. Die Cams laden ein, den Abend beim gemeinsamen Essen und türkischen Tee ausklingen zu lassen. Wie sehr hätten sie sich das am Anfang gewünscht. Als Meta sie das erste Mal zu sich eingeladen hat, konnten ihre türkischen Freunde das gar nicht glauben – ihnen passierte das nie.
Obwohl Fethullah Gerin sich sehr gut mit seinen Kollegen versteht und deutsche Freunde hat, ist er unsicher, ob er die Familie der Freundin seiner Tochter zu sich nach Hause zum Essen einladen soll.
Doch Özlem Cam ist der Meinung: „Wir müssen zusammen essen, spazieren gehen, tanzen, Sport machen und lernen, zusammenzuleben. Man sollte sich nicht scheuen, zu sprechen und neue Kontakte zu knüpfen“, rät sie Migranten.
Es gehe darum, Zeit miteinander zu verbringen, sich kennenzulernen und Momente zu erleben, in denen man denkt: „Ah, er isst wie wir, er feiert wie wir.“ Dazu wünschen sich alle drei, dass auch die Deutschen ihre Türen mehr öffnen.