„Es ist erst einmal ein Wunsch, aber natürlich hoffe ich, dass ich irgendwann zurückkehren kann in meine Heimat“, sagt Solale Schirasi gegen Ende eines langen Gesprächs.
Schirasi sitzt auf einem der beiden niedrigen Sofas in ihrer Wohnung im Konstanzer Stadtteil Paradies, das sie mit ihrem Mann teilt. An den Wänden hängen überall Bilder ihres Sohnes und ihrer Tochter sowie deren Kinder. Auf dem Boden ein Perserteppich, auf dem Tisch eine goldene Teekanne.
35 Jahre ist es her, dass Schirasi aus ihrer Heimat, dem Iran, fliehen musste. 35 Jahre, in denen sie immer wieder Hoffnung hatte, in ihrer Heimat würde sich etwas ändern, wenn dort Proteste gegen das herrschende Regime der Islamischen Republik aufflammten. Doch zu dessen Sturz führten sie nie.
„Aber diesmal ist alles anders“, sagt Schirasi. Dieser Satz fällt mehrmals im Gespräch. Und man hört und liest ihn dieser Tage auch anderswo oft. Denn seit Mitte September ebben die Proteste gegen das Regime im Iran nicht ab, die nach dem Tod der von der Sittenpolizei inhaftierten jungen iranischen Kurdin Mahsa Amini begonnen hatten.
Im Gegenteil: Sie breiteten sich immer weiter aus im Land, mobilisierten immer mehr Menschen. Aller Härte und Gewalt zum Trotz, mit der die Sicherheitskräfte des Landes gegen die Demonstranten vorgehen.
„Es ist eine neue Generation junger Frauen und auch Männer. Sie haben keine Angst, sie sind nicht gehorsam, sie wollen frei sein“, sagt Schirasi. Wie auch viele iranische Aktivisten bezeichnet sie die Proteste inzwischen als Revolution. Eine Revolution gegen ein Regime, das selbst vor über 40 Jahren durch eine Revolution an die Macht gekommen war und dabei ein anderes Regime abgelöst hatte.
Das ist die jüngste Geschichte des Irans in Kurzfassung. Eine Geschichte, die zu verstehen es sich lohnt, um die jetzigen Ereignisse besser zu begreifen. Eine Geschichte, die sich im Leben von Solale Schirasi widerspiegelt, die die Brutalität beider Regime – des alten und des aktuellen – am eigenen Leib erfahren hat.
Eine politische Jugend
Als Schirasi 1951 geboren wird, herrscht seit zehn Jahren Mohammed Reza Pahlavi als Schah über das Land. Schirasi wächst in der iranischen Hauptstadt Teheran in einer Familie des gehobenen Bildungsbürgertums auf. „Mein Vater war Autor, meine Mutter gehörte zu den ersten iranischen Frauen, die Jura studiert hatten, und machte sich auch als Dichterin einen Namen.“
Auch ihre Geschwister studieren – und sind politisch aktiv, was unter dem Schah-Regime nicht gern gesehen wird. „Mein älterer Bruder und meine ältere Schwester wurden als Studenten immer wieder verhaftet wegen ihrer politischen Aktivitäten. Das war immer präsent.“
So verwundert es nicht, dass sich auch Schirasi, als sie ihr Studium der Mathematik aufnimmt, bald schon in einer studentischen Gruppe wiederfindet, die sich im Geheimen zu Diskussionen trifft – und das Land außerhalb Teherans bereist.
Informationen sammeln und Kritik am Regime
„Wir wollten wissen, was in unserem Land los ist. Informationen gab es wenig. Aber wir sahen, wie an den Rändern Teherans nach der Landreform Slums entstanden waren, wie die Menschen dort hausten.“
Und Schirasi und ihre Freunde setzen sich kritisch mit dem Regime ihres Landes auseinander. „Es gab ja einerseits gute Reformen, die medizinische Versorgung wurde verbessert, die Bildung von Mädchen, und Frauen erhielten mehr Rechte. Aber das Problem war: Diese Reformen gingen nicht einher mit mehr politischer Freiheit, es gab weiterhin keine Medienfreiheit, sich frei informieren ging nicht.“
Sich informieren, erfahren, was auf der Welt und im eigenen Land los ist, das treibt Schirasis Gruppe an. „Ich habe vor allem abgeschrieben, ganze Bücher auf kleine Blätter, damit sie erhalten werden, sich ihre Botschaft verbreitet“, sagt Schirasi und lacht auf: „Das war meine politische Aufgabe. Wir haben uns als Aktivisten verstanden, aber eigentlich waren wir vor allem Handwerker.“
Einzelne radikalisieren sich
Doch diese Handwerker wollen auch anderen die verbotenen Schriften und Informationen zugänglich machen. Nur hätten da andere Regimegegner viel bessere Karten gehabt als sie, sagt Schirasi mit Blick auf die damals schon einflussreichen Mullahs: „Jedes Dorf im Iran hat eine Moschee, wir hatten nur die Universitäten.“
Immer mehr sei damals darüber gesprochen worden, sich zu bewaffnen und den Aufstand zu üben. Doch Schirasi und ihre Gruppe entscheiden sich dagegen, glauben weiterhin an die Macht der Worte. Unbeirrt machen sie weiter – auch nachdem sie ihr Studium abgeschlossen haben.
Schirasi arbeitet nun als Mathematiklehrerin. 1975 bricht sie mit vier anderen aus ihrer Gruppe auf nach Europa, darunter ist auch ihr Ehemann, der elf Jahre ältere Mathematiklehrer Ali Schirasi. „Wir wollten uns mit dortigen iranischen Studentengruppen treffen, uns mit ihnen austauschen.“
Die Reise, die Rückkehr, die Verhaftung
Drei Monate sind sie in europäischen Städten unterwegs, dann geht es im Auto zurück an die Grenze zum Iran. Im Gepäck haben sie in ihrer Heimat verbotene Bücher dabei. An der Grenze werden sie direkt verhaftet. Der Grund: Ein Freund im Iran hatte nach langer Folter durch die Sicherheitskräfte Schirasi und die anderen als Aktivisten entlarvt.
Sie werden in ein Gefängnis für politische Gefangene gebracht. Vor allem ihr Mann sei bereits in den ersten Tagen seiner Haft schwerst misshandelt worden, erzählt Schirasi.

Dass auch sie gefoltert wurde, erwähnt sie nur kurz und fährt dann schnell fort: sechs Monate Einzelhaft, Verlegung in eine Zelle mit anderen Mitgefangenen, die Verhöre wegen ihrer Hefte, in denen sie festgehalten hat, was sie auf ihren Reisen durch den Iran gesehen hatte. Und die Sorge um ihren Mann und ihre Mutter.
„Sie hatten sie auch verhaftet, ohne Grund, sie hatte nichts mit unserer Reise zu tun, wusste nichts von den Büchern. Drei Monate wurde sie im Gefängnis sozusagen als Geisel gehalten, um mich zu erpressen, damit ich gegen die anderen in meiner Gruppe aussage.“
Doch Schirasi verrät niemanden. Irgendwann findet gegen sie und ihren Ehemann ein Prozess statt. „Ich wurde der Aktivitäten gegen die Sicherheit des Landes beschuldigt.“ Beide werden sie verurteilt, sie zu drei, er zu zehn Jahren Haft.
Die Revolutionswirren
Unter anderem auf Betreiben von Amnesty International kommen sie jedoch 1978 frei. Es ist das Jahr von Massenprotesten und landesweiten Streiks gegen das Schah-Regime, das den Widerstand mit brutaler Gewalt zu unterdrücken versucht. Zur Integrationsfigur der Proteste entwickelt sich der im Exil lebende Ajatollah Chomeini.
In der Folge überschlagen sich die Ereignisse: Am 8. September 1978 wird eine Massendemonstration in Teheran gewaltsam aufgelöst, unzählige Menschen sterben, die genaue Anzahl ist bis heute unklar. Der „Schwarze Freitag“ ebnet den Weg zur Islamischen Revolution.
Anfang 1979 flieht der Schah ins Exil, einen Monat später kehrt Ajatollah Chomeini zurück in den Iran und Ende März 1979 spricht sich die Mehrheit der Bevölkerung für die Gründung einer Islamischen Republik aus. Ende des Jahres stimmt sie der neuen Verfassung zu, die Chomeini weitreichende Befugnisse zuspricht.
„Auf einmal musste man Kopftuch tragen“
Auch Schirasi scheint diese Zeit wie im Schnelldurchlauf erlebt zu haben, folgt man ihren Schilderungen: „Als wir frei kamen, waren wir überhaupt nicht organisiert, und wussten nicht, was wir draußen in der neuen Realität tun konnten.“ Sie und ihr Mann versuchen, die anderen Aktivisten von früher wiederzufinden. Zugleich nehmen sie ihre Arbeit als Lehrer wieder auf.
Ab 1979 kommt es zur Islamisierung im Iran; für Frauen gilt fortan eine islamische Kleiderordnung und in öffentlichen Verkehrsmitteln Geschlechtertrennung. Kritiker der Islamischen Republik werden bedroht und verhaftet, teilweise ermordet.
„An den Straßenecken standen mit Stöcken bewaffnete Jugendliche. Sie hatten die Erlaubnis, Frauen zu beschimpfen, zu schlagen, wenn sie keinen Schleier trugen. Auf einmal war man auf der Straße nicht mehr sicher, musste ein Kopftuch tragen“, erinnert sich Schirasi. Auch an ihrer Schule muss sie wie ihre Schülerinnen nun ihren Kopf verhüllen.
Das neue Regime schlägt zu wie das alte
Doch Schirasi kann sich noch ein Stück weit gegen die neue Ordnung stemmen. Sie organisiert Picknicks, bei denen sie mit ihren Schülerinnen über Demokratie diskutiert. Doch nach ein paar Monaten wird Schirasi gekündigt.
„Eine Zeit lang hat mein Mann als Taxifahrer gearbeitet und dann wurden wir beide Privatlehrer. Uns ging es dann finanziell sogar besser als zuvor, weil viele wohlhabende Familien ihre Kinder zu der Zeit lieber privat unterrichten ließen, als in die staatlichen Schulen zu schicken.“
Daneben treffen sich Schirasi und ihr Mann wieder mit Anderen im Geheimen, hoffen noch immer auf eine echte demokratische Wende. „Wir waren dabei sehr vorsichtig“, betont Schirasi. Doch es nützt nichts, erneut geraten sie ins Visier der Sicherheitskräfte und 1983 wird Schirasis Mann verhaftet.
„Es war eine ganz schlimme Zeit, viele Freunde und Familienangehörige hatten das Land damals schon verlassen. Alle mussten fliehen“, erzählt Schirasi. Ihr Mann kommt 1983 ins bis heute für Folterung berüchtigte Evin-Gefängnis. „Erst nach Monaten konnte ich ihn besuchen, sehen, wie sehr er unter der Folterung litt. Einmal musste er von den Wärtern fast getragen werden, weil er keinen Schritt mehr selber gehen konnte.“
1986 schließlich, als ihr Mann fast drei Jahre in Evin ist, kann Schirasi erwirken, dass er aufgrund seiner körperlichen Beschwerden in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses gebracht wird. Von dort gelingt ihm 1987 die Flucht – gemeinsam mit Schirasi und ihren beiden Kindern, die zu dem Zeitpunkt fünf und acht Jahre alt sind.
Flucht und neue Heimat
Für Schirasi und ihre Familie geht es zunächst in die Türkei und dann nach Deutschland. „Eigentlich wollten wir nach England, aber wir hatten keine Pässe mehr.“ In Deutschland wohnte ein Bruder ihres Mannes und sie selbst hatte während der eigenen Haftzeit von einer Mitgefangenen ein paar Brocken Deutsch gelernt. Und trotz gefälschter Pässe gelingt der Familie auch tatsächlich die Einreise nach Deutschland.
Es beginnt eine Odyssee durch Flüchtlingsheime, bis sie schließlich in Konstanz eine neue Heimat finden. Schirasi und ihr Mann arbeiten auch hier als Privatlehrer. „Denn Mathematik ist eine universelle Sprache.“ Und sie fühlen sich weiterhin der Aufklärung verpflichtet, darüber, was in ihrer Heimat geschieht, halten Vorträge, veröffentlichen Bücher.
Und jetzt, wo in ihrer Heimat die Massenproteste nicht abebben – alles anders ist, wie Schirasi sagt – solidarisieren sie sich wie viele Exil-Iraner weltweit auf Kundgebungen mit dem Kampf der Demonstranten.
Die Hoffnung lebt
Täglich hält sich Schirasi über verschiedene Kurznachrichtendienste auf dem Laufenden. Das gelingt, auch wenn das Regime versucht, das Internet als wichtigstes Organisationsinstrument der Demonstranten zu kappen.
Schirasi steht in Kontakt mit Freunden und Familienangehörigen, die im Iran geblieben sind. Deren Kinder oder Enkel sich teilweise auch an den Protesten beteiligen. „Ich habe eine Freundin gefragt, was man im Westen machen könne. Und sie meinte, sie verstehe nicht, warum die ausländischen Regierungen ihre diplomatischen Beziehungen zum Iran nicht minimieren“, erzählt Schirasi.
Ansonsten denke man nicht viel über die Zukunft nach. Der Protest ist im Hier und Jetzt. Und er nährt Schirasis Hoffnung, ihre Heimat doch noch einmal wiederzusehen.