Lucas Wehner verbringt gerade viel Zeit vor allem am Telefon. Von Schwarzwald-Kurörtchen Bad Liebenzell aus sondiert er die Sicherheitslage am Flughafen Kabul, hält den Kontakt zu den Ortskräften in Afghanistans Hauptstadt und berät besorgte Angehörige in Deutschland. Während des Telefonats mit dem SÜDKURIER gehen ständig neue WhatsApp-Nachrichten bei Wehner ein. Afghanen, die dringend seinen Rat suchen, bitten um Rückruf.

Man könnte denken, das sei Wehners Hauptberuf. Doch das Engagement für die Ortskräfte ist ein Ehrenamt, wenn auch eines mit erheblichem Aufwand, oft in den Nacht- und Abendstunden. Seit 2017 ist Wehner, der an der Internationalen Hochschule Liebenzell das International Office leitet, beim Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte für den Schwarzwald zuständig, mit Ortskräften zu tun hat er schon seit 2015. Die Paten sind größtenteils aktive oder ehemalige Bundeswehrsoldaten. 120 Mitglieder sind sie aktuell, bis vor drei Wochen waren es noch 72. Auch der 33-Jährige ist Reservist der Bundeswehr – wo und wann er gedient hat, darf er nicht sagen.

Bei allen Ministerien auf taube Ohren gestoßen

Die Paten helfen denen, die Deutschland einst in Afghanistan unterstützten, hier anzukommen. Weil immer weniger Ortskräfte kommen durften, ihnen die Ausreise nach Deutschland systematisch schwer gemacht wurde, verlagerte sich das Aufgabenfeld des Netzwerks in den letzten Jahren mehr ins Politische. „Da gab es verschiedene Hürden“, schildert Wehner. „Zum Beispiel musste man vorab schon eine Gefährdungsanzeige stellen, um überhaupt noch an ein Visum zu kommen. Oder man sagte den Ortskräften, sie sollten doch zur deutschen Botschaft in Indien oder Pakistan, damit ihr Fall bearbeitet werden könnte.“ Das Patenschaftsnetzwerk versuchte dagegenzuhalten. „Wir haben deswegen immer wieder versucht, mit dem Auswärtigen Amt zu reden und mit anderen Behörden. Auch das Bundesinnenministerium hat es uns schwer gemacht.“

Ein Bundeswehrsoldat (links) und ein Dolmetscher (rechts) sprechen 2011 nahe Kundus mit einem Afghanen.
Ein Bundeswehrsoldat (links) und ein Dolmetscher (rechts) sprechen 2011 nahe Kundus mit einem Afghanen. | Bild: Maurizio Gambarini, dpa

Diese Hürden sind allerdings kein Vergleich zu den Problemen, die sich den Paten aktuell stellen. Trotz allem Drängen auch von Seiten des Patenschaftsnetzwerks ist der größte Teil der Ortskräfte noch immer in Afghanistan. Ihre Lage ist verzweifelt. Wenn sie sich überhaupt in die Hauptstadt retten konnten, müssen sie sich nun dort vor den Taliban verstecken, womöglich die Dokumente, die sie als ehemalige Angestellte in Diensten Deutschlands ausweisen, verbrennen. Was ihnen droht, wenn sie von den Taliban entdeckt werden, ist kein Geheimnis. „Es gibt Videos, auf denen zu sehen ist, wie die Ortskräfte durch die Straßen geschleift und gefoltert werden“, berichtet Wehner. „Unseren Ortskräften droht letztendlich alles zwischen Folter, Entführung bis hin zum Tod. Das muss man so ehrlich sagen.“

Die Schutzhäuser sind nicht mehr sicher

Die Bundeskanzlerin hat kürzlich von 10 000 Ortskräften gesprochen. Das Patenschaftsnetzwerk rechnet derzeit mit 8800 Menschen, nicht eingerechnet die Helfer verschiedener Nichtregierungsorganisationen. Nur etwa 1800 Menschen – Helfer und Familien – seien bereits in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen.

Etwa 370 der in Afghanistan verbliebenen Helfer hatten die Paten bis vor zwei Tagen in so genannten Safe Houses untergebracht. Drei solcher sicherer Häuser finanzierte das Netzwerk auf eigene Rechnung, pro Monat und Haus wurden dabei ein hoher fünfstelliger Betrag fällig – bezahlt durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Zuletzt habe der Verein der Bundesregierung sogar angeboten, selbst einen Charterflug zu finanzieren. „Einer meiner Vereinskollegen hat neulich gesagt: Mensch, das ist fast schon wie bei Schindlers Liste“, erzählt Wehner. Was er meint: Wenn der Staat versagt, sind zivilgesellschaftliche Akteure gefragt. Der Unternehmer Oskar Schindler bewahrte im Nationalsozialismus 1200 jüdische Zwangsarbeiter vor dem Vernichtungslager.

„Ich frage mich, wer in Zukunft noch mit der Bundeswehr oder den deutschen Behörden noch in einem Auslandseinsatz zusammenarbeiten möchte.“
Lucas Wehner

Seitdem die Taliban auch Kabul kontrollieren, sind aber selbst die Safe Houses zu gefährlich geworden. Gerade noch rechtzeitig hat man deshalb die Bewohner auf die Straße geschickt, sie gebeten, irgendwo privat Unterschlupf zu suchen – bis man sie hoffentlich bald außer Landes bringen kann. „Das wären Todesfallen für unsere Ortskräfte geworden“, sagt Wehner. Vier Stunden später seien die Taliban da gewesen.

Ansprechpartner sind die ehrenamtlichen Paten

Die Hoffnung auf Ausreise wird unterdessen von Tag zu Tag kleiner. Am Dienstag gelang es der Bundeswehr immerhin, 127 Menschen auszufliegen, am Tag zuvor nur sieben. Damit die Ortskräfte überhaupt eine Chance haben, einen dieser Flieger zu erreichen, sind von Deutschland aus kleine logistische Meisterleistungen zu vollbringen. In Bad Liebenzell telefoniert Wehner deshalb mit einer Sicherheitsfirma, die ihm sagen kann, auf welchem Weg durch die Stadt man noch keinen Taliban-Checkpoints begegnet. Währenddessen hält er über WhatsApp Kontakt zu den Ortskräften, die sich nicht etwa beim Auswärtigen Amt melden, sondern beim Netzwerk. Nicht ohne Grund: „Das Auswärtige Amt hat es in den letzten Jahren verschlafen, Listen zu erfassen. Wir waren deshalb immer primärer Ansprechpartner für sie.“

Die Vorwürfe der Paten sind unüberhörbar. Vom Vorgehen der Bundesregierung ist man enttäuscht und erschüttert. „Hätten wir diese Evakuierung nur ein bis zwei Wochen vorher gestartet, hätten wir unsere Leute sicher zum Flughafen bringen können. Jetzt haben wir wirklich eine Chaos-Situation“, sagt Wehner.

Und beschädigt wird auch die Bundesrepublik. „Diese Menschen sind wirklich enttäuscht – von uns allen. Wir als Patenschaftsnetzwerk versuchen da noch, ein bisschen Hoffnung zu geben, aber wir stehen natürlich auch als Deutsche da“, sagt Wehner und schiebt nach: „Ich frage mich, wer in Zukunft noch mit der Bundeswehr oder den deutschen Behörden noch in einem Auslandseinsatz zusammenarbeiten möchte.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (l, CDU) besucht 2013 im Feldlager in Kundus Soldaten der Bundeswehr und gibt dabei einem lokalen Fahrer ...
Bundeskanzlerin Angela Merkel (l, CDU) besucht 2013 im Feldlager in Kundus Soldaten der Bundeswehr und gibt dabei einem lokalen Fahrer der Bundeswehr die Hand. | Bild: Kay Nietfeld, dpa

Warum wurde so lange gezögert? Wehner vermutet fehlenden politischen Willen und eine dramatische Fehleinschätzung, die möglicherweise auch daher rührt, dass man lange Zeit die Dinge nur in rosigen Farben sehen wollte. Wehner, CDU-Mitglied, hat während seines Studiums der Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Terrorismus und internationale Beziehungen selbst Dossiers für die CDU-Fraktionsgruppe Außenpolitik geschrieben. „Das war ein total positives Bild, das wir damals gezeichnet haben. Was ja auch wirklich so war: Deutschland war beteiligt am Bau von 2000 Schulen für 500.000 afghanische Kinder. Wir haben den Aufbau von medizinischen Zentren die Kindersterblichkeit um 50 Prozent gesenkt. Als ich gehört habe, dass die Taliban das Land übernehmen, hätte ich heulen können. Man denkt sich so: Das alles für nichts!“

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Eine Bitte hat der Helfer der Helfer noch. In den nächsten Wochen sieht Wehner einiges an Arbeit auf die Paten zukommen. „Wenn wir davon ausgehen, dass in den nächsten Wochen doch ein paar Hundert Ortskräfte evakuiert werden, dann werden wir auf jeden Fall Unterstützung benötigen.“ Melden können sich Interessierte über das Einsatzführungskommando der Bundeswehr (www.bundeswehr.de) oder direkt beim Patenschaftsnetzwerk (www.patenschaftsnetzwerk.de). Gesucht werden Menschen, die bei Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche helfen und die Afghanen zum Amt begleiten. Ähnlich wie bei der Flüchtlingshilfe, nur dass es sich um Personen handelt, die im besonderen Interesse der Bundesrepublik Deutschland hier sind und nicht um ihren Aufenthaltstitel bangen müssen. In der Regel jedenfalls. Wehner hat auch hier eine Geschichte in petto von einem kürzlich geschiedenen Partner einer weiblichen Ortskraft, der jetzt theoretisch Deutschland verlassen müsste. In der derzeitigen Lage allerdings ein unrealistisches Szenario.